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Meinung: Richtig rechnen

Zum Interview mit der Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen Marianne Birthler vom 28. Dezember Frau Birthler gibt sozusagen amtlich bekannt, dass weniger als zwei Prozent der DDR-Bevölkerung für die Stasi gearbeitet haben.

Zum Interview mit der Bundesbeauftragten für Stasiunterlagen Marianne Birthler

vom 28. Dezember

Frau Birthler gibt sozusagen amtlich bekannt, dass weniger als zwei Prozent der DDR-Bevölkerung für die Stasi gearbeitet haben.

Liebe Frau Birthler, ich stelle Ihnen gerne meine Stasiakte zur Verfügung. Es kann durchaus sein, dass die darin vorkommenden 40 IMs nur zwei Prozent der Menschen repräsentierten, mit denen ich in den 25 Jahren der Observation in Kontakt kam. Damit könnte ich Ihre These von der marginalen Verwicklung der ostdeutschen Bevölkerung in den Repressionsapparat des SED-Regimes belegen.

Ich bitte Sie aber, abseits von Fokussierung und Fixierung auf diese Professionellen die Akten ein zweites Mal zu lesen. Dann tauchen aus dem Denunziations- und Alltagssumpf ungezählte „Quellen“ und „Auskunftspersonen“ auf. Nachbarn, Mitschüler, Lehrer, Kollegen und Urlaubsbekanntschaften. Die ließen sich leicht auf 20 Prozent hochrechnen. Gar nicht aktenkundig wurden Polizisten, Dozenten, Professoren, SED-Genossen und deren Vasallen, FDJler, Straßenobmänner, GST-Ausbilder, NVA-Vorgesetzte, Kulturfunktionäre, Funktionäre sowieso, ich will Sie nicht langweilen, aber jetzt wären wir schon bei mindestens 50 Prozent. Jetzt klappen Sie bitte – nur zum Spaß – Ihre kompletten Stasiakten zu und öffnen die Wählerlisten und wir sind bei fast 100 Prozent Komplizen eines inzwischen allgemein geächteten Staates. Kollektives Versagen ist auch immer individuelles Versagen. Was wäre denn so schlimm daran, dieses Versagen zuzugeben? Ich gebe zu, tausendmal geschwiegen zu haben wo ich hätte reden sollen, wahrscheinlich hunderttausendmal.

Jetzt wundern sich alle, dass Eltern und Großeltern den Nachgeborenen kein politisch korrektes DDR-Bild hinterlassen. Durch die nachträgliche Abspaltung der Stasi vom Rest der Bevölkerung wurde dieses Vergessen aber erst sanktioniert. Unzulängliche Schulbücher und schweigende Zeitzeugen sind nur Symptome einer schonenden und schönenden Erinnerung.

Bob Bahra, Michendorf

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