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Meinung: Tarifgebiete Ost und West: Ist das noch zeitgemäß?

„Schreibtisch West, Arbeitslosengeld Ost“ von Ingo Schmidt-Tychsen vom 20. März Oft wird von der Mauer in den Köpfen geredet, die auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch vorhanden ist.

„Schreibtisch West, Arbeitslosengeld Ost“

von Ingo Schmidt-Tychsen vom 20. März

Oft wird von der Mauer in den Köpfen geredet, die auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch vorhanden ist. Aber zementiert wird solches Denken durch Taten: Dass immer noch Tarifgebiete Ost und Tarifgebiete West mit unterschiedlicher Bezahlung existieren, ist ein Zustand der nicht hinnehmbar ist. Gesellschaftspolitisch sollten wir da längst weiter sein. Den Arbeitgebern ist der Ist-Zustand natürlich recht, haben sie so doch mitten in Deutschland Billiglohnzonen. Aber es wird Zeit, dass die Arbeitnehmervertreter diesen Zustand beenden.

Christian Weigel, Berlin-Charlottenburg

Mir steigt die Zornesröte ins Gesicht. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung leisten wir uns immer noch zwei Tarifgebiete – und mithin unterschiedlich hohes Arbeitslosengeld West und Ost. Gibt es eine nachvollziehbare Begründung, wieso Gewerkschaften zum Beispiel für Pflegekräfte einen Mindestlohn West und einen (geringeren) für die östlichen Bundesländer abschließen? An den Lebenshaltungskosten kann es kaum liegen, denn die haben sich in diesen zwei Jahrzehnten längst angeglichen. Strukturschwache Gebiete gibt es auch im „alten“ Bundesgebiet. Ich habe aber nichts davon gelesen, dass der Mindestlohn im Bayerischen Wald niedriger wäre als der in München Stadt. Oder dass das Arbeitslosengeld im Emsland geringer bemessen ist als das in Hamburg. Eher neige ich zu der Auffassung, dass das Leben in Potsdam erheblich teurer sein dürfte als im ländlich geprägten Fichtelgebirge. Wie lange soll dieser Unfug noch weitergehen? Und wie lange spielen die Tarifpartner auf Arbeitnehmerseite dieses unwürdige Spiel noch mit?

Georg Leiser, Großbeeren

Sehr geehrter Herr Weigel,

sehr geehrter Herr Leiser,

Ihren Zorn über die tarif- und sozialpolitische Teilung der Bundesrepublik teile ich. Es ist völlig unstrittig: Die nach 20 Jahren nicht mehr ganz so neuen Bundesländer sind keine Entwicklungszonen, sondern längst attraktive Standorte - für hochspezialisierte Industrien ebenso wie für äußerst qualifizierte Dienstleistungen. Und so wenig, wie es eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse gibt, darf es ein Tarifrecht zweiter Klasse geben.

Dass es leider in Teilen trotzdem immer noch so ist, liegt nicht an der Ignoranz der Gewerkschaften und schon gar nicht daran, dass wir uns mit dieser „Tarifmauer“ abgefunden hätten. Vielmehr haben die radikale Deindustrialisierung nach der Vereinigung und der millionenfache Arbeitsplatzverlust, den die Menschen zwischen Stralsund und Plauen erleben mussten, etliche Arbeitgeber dreist und manche Beschäftigte mutlos gemacht.

Bessere Löhne und gleiche Tarifbedingungen müssen immer noch erkämpft werden. Und wo Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst nicht bereit oder in der Lage sind, dafür einzutreten, können Gewerkschaften wenig ausrichten. Im öffentlichen Dienst waren wir schon erfolgreich, dort haben wir gleiche Bezahlung in West und Ost weitgehend durchgesetzt. Und in vielen Krankenhäusern in den ostdeutschen Bundesländern erleben wir gerade, wie sich die Kolleginnen organisieren und bessere Tarifverträge erstreiten. In anderen Branchen ist es dagegen schwierig, und wir stehen oft genug vor dem Dilemma, entweder zu speziellen „Ost-Tarifen“ Ja zu sagen oder gar keine Mindestbedingungen vereinbaren zu können und die Beschäftigten damit der Willkür ihrer Arbeitgeber auszuliefern.

Ein besonders anschauliches wie ärgerliches Beispiel dafür ist der von Ihnen, Herr Leiser, angesprochene Mindestlohn für Pflegekräfte. Während die Wohlfahrtsverbände und die Caritas unsere Forderung nach deutlich höheren Löhnen und einheitlicher Bezahlung in Ost und West unterstützt haben, lehnten der private Arbeitgeberverband und die Diakonie – sprich: die evangelische Kirche – dies kategorisch ab. Die Bundesregierung bestand aber auf einem einheitlichen Votum als Voraussetzung dafür, den Mindestlohn überhaupt erst in Kraft zu setzen. Hätten wir uns also der Erpressung durch die privaten Arbeitgeber und die Diakonie widersetzt und stattdessen auf höheren und dazu gleichen Löhnen für Pflegehilfskräfte in Ost und West bestanden, würde es gar keinen Mindestlohn geben. Damit wäre aber niemandem geholfen, denn in einigen Regionen, in denen bislang nur vier oder fünf Euro pro Stunde gezahlt werden, können jetzt die Löhne ab Juli um mehr als 50 Prozent steigen. Dies ist ein erster Schritt, auf dem wir aufbauen wollen.

Um es nochmal ganz deutlich zu machen: Die Tarifspaltung des Landes ist unsozial und willkürlich. Und jeder einzelne Tarifvertrag, in dem wir diese Spaltung nicht überwinden können, schmerzt genauso wie die entsprechende Unterscheidung beim Pflegemindestlohn.

Für uns ist deshalb völlig klar: Gleiche Arbeit muss gleich bezahlt werden, egal ob in Aachen oder Dresden, Potsdam oder Braunschweig. Und wir brauchen endlich ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West. Gemeinsam mit den Beschäftigten werden wir das durchsetzen, darauf müssen sich die Arbeitgeber im Osten einstellen.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

— Frank Bsirske, Vorsitzender

der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi)

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