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Meinung: Warum spüren Tiere Erdbeben früher als die Seismographen?

„TsunamiWarnungen aus Potsdam“ vom 10. Januar, „Geoforscher zu Kanzler eingeladen“ vom 11.

„TsunamiWarnungen aus Potsdam“ vom 10. Januar, „Geoforscher zu Kanzler eingeladen“ vom 11. Januar und „Die Tiere waren schlauer“ vom 8. Januar 2005

Die ungeheure Katastrophe in Südostasien ist für die Betroffenen sehr schmerzlich. Es muss schnell etwas geschehen. Es wird von Frühwarnsystemen geredet, die in anderen Weltmeeren schon vorhanden sind. Was mich aufmerken lässt! In den Zeitungen wird viel davon geschrieben, dass man in den ganzen Katastrophengebieten keine toten Tiere gefunden habe. Fachleute behaupten nun, dass Tiere mit ihrem sechsten Sinn derartige Unglücke sehr früh erahnen und sichere Gebiete aufsuchen.

Können die verantwortlichen Stellen nicht dafür sorgen, dass gerade Tiere und deren Verhalten beobachtet werden, um solche Ereignisse früher zu erkennen? Die Tiere funktionieren immer, sind preisgünstiger und erneuern sich selbst. Eine Überlegung ist es sicher wert.

Joachim Radtke, Berlin-Lichterfelde

Sehr geehrter Herr Radtke,

als der italienische Erdbebenforscher Mercalli 1887 ein Erdbeben in Ligurien untersuchte, sammelte er aus 130 Ortschaften Informationen über zuvor beobachtetes, ungewöhnliches Tierverhalten. Er rechtfertigte die peinlich genauen Recherchen bei Bürgermeistern und Dorfpfarrern folgendermaßen: „Wir verstehen diese Phänomene heute nicht, aber vielleicht helfen unsere Beobachtungen einmal zukünftigen Generationen.“ Im darauf folgenden Jahrhundert haben die Erdbebenforscher viel dazugelernt. Aber Tiere, die das Erdbeben früher registrieren können als die empfindlichen Seismographen, passten nicht in ihre Vorstellungswelt. Die Erdbebenvorahnung der Tiere ist immerhin schon seit der Antike in allen Kulturen dokumentiert worden. Vor 30 Jahren nutzten chinesische Behörden die Vorahnung der Tiere, um Erdbeben vorherzusagen. Sie verteilten zum Beispiel Fächer an die Bevölkerung, auf denen die Erdbebenvorzeichen aufgezeichnet waren.

Im Jahre 1975 evakuierten sie Hunderttausende von Menschen, weil Schlangen aus dem winterlichen Boden krochen und erfroren und Quellen sich trübten. Das Erdbeben von Haicheng ereignete sich, als die Menschen im Freien mit Filmvorführungen unterhalten wurden. Im Jahre 1976 schlug aber ein ähnlicher Versuch fehl, in Tangshan starben über 260 000 Menschen, obwohl rund 2000 Anomalien vorher gemeldet worden waren. Wie die Reaktion bei Menschen sind die Reaktionen von Tieren nicht immer zuverlässig, sie haben auch ihre Launen, werden vom Wetter beeinflusst und leiden unter dem Stress unserer zivilisierten Welt. Beim Schreiben meines Buches „Wenn Schlangen erwachen“, das vor 27 Jahren nach einem Erdbeben in Norditalien über die Geschichte dieses Phänomens entstand, fiel mir auf, dass häufig parallel zu dem ungewöhnlichen Tierverhalten Nebelbildungen oder Leuchterscheinungen in der Atmosphäre beobachtet wurden. Irgendwelche Prozesse im Untergrund müssen elektrische Ladungen und Gase vor dem Erdbeben freisetzen.

Aber Experimente mit Tieren und Erdbeben passen nicht in unsere hoch entwickelte Forschungswelt. Wer kann jahrelang zuverlässige Experimente vornehmen, um auf ein größeres Erdbeben zu warten? Andererseits war das Problem relativ einfach: Nur wenn schon deutlich vor dem Erdbeben Energie freigesetzt wird, sollten Tiere irgendwelche Signale erkennen. Also müsste sich von einem Satelliten aus gemessen die Erdoberfläche um ein Epizentrum vor dem Erdbeben lokal erwärmen. Seit mehreren Jahren werden vor größeren Erdbeben, zum Beispiel auch vor dem Erdbeben von Gujarat (Nordwestindien) im Januar 2001, genau diese Beobachtungen gemacht. Tage oder Stunden vorher erwärmt sich die Erdbebenzone um 2 bis 4 Grad. Man vermutet einen durch ausströmende Gase und Ladungen verursachten lokalen Treibhauseffekt.

Diese zurzeit intensiv studierte Temperatur-Anomalie hat die Seismologen überrascht, es ist aber wohl kein neues Phänomen. Es scheint genau das zu zeigen, worauf die Tiere reagieren. Unterstützt durch diese Temperatur-Anomalien dürfte es möglich sein, Tierbeobachtungen kurz vor Erdbeben zielsicherer vorzubereiten. Die Naturvölker auf den Nikobaren und Andamanen haben den überlieferten Beobachtungen vertraut und sich vor dem Tsunami retten können.

Es ist anzunehmen, dass Tsunamis, die lange nach dem Erdbeben gegen die Küsten rollen, andere Signale vermitteln als Erdbeben. Schall- und Drucksignale laufen durch Wasser viel langsamer als durch das Gestein des Meeresbodens. Vermutlich hatten die Tiere gemerkt, dass das Rauschen vom Meer her sich deutlich vom gewohnten Rhythmus abhob.

Auch der moderne Mensch sollte die Reaktionen von Tieren vor Naturkatastrophen Ernst nehmen, da sie ihn über ihre feinen Instinkte und Sinne helfen können, die Natur besser zu verstehen.

Helmut Tributsch ist Professor für Physikalische Chemie an der Freien Universität und Autor des Buches „Wenn Schlangen erwachen“, das sich mit Vorahnungen der Tiere vor Erdbeben befasst.

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