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"Wer soll in die Gesellschaft integriert werden, wenn nicht die Menschen, die sich mit dem NPD-Programm offen oder latent identifizieren?"

© Privat

Leserkommentar: Religiöser Fanatismus wird in Deutschland produziert

Lange Jahre war der Friseur unseres Lesers Hassan M. säkular und tolerant. Jetzt tendiert er zu fundamentalistischem Gedankengut. Das ist ein deutsches Problem, findet unser Leser.

Ich bin gestern zu meinem Friseur gegangen, den ich seit zirka drei Jahren regelmäßig besuche. Etwas schockiert war ich schon, als ich ihn in seiner neuen Aufmachung zu Gesicht bekam. Er hat bei mir, seit ich ihn kenne, keinen besonders religiösen Eindruck gemacht. Im Gegenteil, seine Einsichten kamen mir säkular und sehr tolerant vor. Er hörte westliche Musik und äußerte sich kritisch gegenüber Erdogan und seiner islamisch gefärbten Politik. Auch seine Familie in der Türkei gehört nicht zu einer religiösen Schicht. Einmal, als ein anscheinend „fanatisch-religiöser Moslem“ (so bezeichnete er ihn) in seinen Friseurladen kam, um seinen Bart zu trimmen, hat er sich über ihn sehr kritisch geäußert.

Angesichts dieser Kenntnisse, die ich über ihn habe, war ich neugierig, herauszufinden, warum er auf einmal einen Vollbart trägt und seine Kleidung und Haarfriseur nun so sehr der der radikal-konservativer Muslime ähnelt. Ich ließ ihn erzählen und hörte immer wieder seine neue Einstellung über die „gefährliche westliche Kultur“ und über die Vorteile des „islamischen Glaubens“. Er erwähnte das Buch von Thilo Sarrazin und erklärte mir, dass er vielleicht auch vor seinem Laden von den Nazis erschossen werden könnte.

Die Zeit, die ich bei meinem Friseur verbringe, ist nicht so lang, dass ich alles über ihn erfahren kann. Auffällig ist, dass er seine neue Einstellung so demonstrativ durch sein Aussehen zur Schau stellt. Während ich später gedanklich versuchte, Zusammenhänge in seinen Aussagen herzustellen, musste ich immer wieder an den Satz von Innenminister Hans-Peter Friedrich denken, den ich vor einiger Zeit im Tagesspiegel gelesen hatte. Herr Friedrich hat eine im Auftrag seines Ministeriums erstellte Studie über „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ mit den Worten kommentiert, man werde keinen „Import autoritärer, antidemokratischer und religiös-fanatischer Ansichten“ akzeptieren.

In dem Fall meines Friseurs ist es allerdings umgekehrt. Seine neue religiöse Gesinnung ist hier in Deutschland entstanden. Seine neue soziale Identität ist eine Folge der neu eingetretenen Erfahrungen, die er in letzter Zeit gemacht hat. Mir scheint es so, dass die Neigung zu religiösem Fundamentalismus als Schutzschild gegenüber der empfundenen Bedrohung verstärkt wird. Hier spielen sicherlich die Themen wie das Buch von Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ und die kürzlich bekannt gewordene deutschlandweite Nazi-Mordserie an Immigranten eine entscheidende Rolle.

Die Hauptfrage ist, wie man die Menschen in eine freiheitliche demokratische Gesellschaft integrieren kann.

Mit solchen Aussagen und Feststellungen wie von Herrn Innenminister Friedrich werden die Tatsachen auf dem Kopf gestellt. Mein Bankberater hatte mir einmal gesagt: “Die Verluste zu beschränken, ist selbst ein Gewinn.“ Was sich bei meinem Friseur anscheinend entwickelt, ist ein Verlust für die bundesrepublikanische Gesellschaft. Es muss alles getan werden, damit die Menschen nicht aus Angst in anti-freiheitliche Gesinnungen hineingeraten. Die Rückgewinnung (wenn überhaupt) dieser Menschen ist dann nur mit viel Energie und Einsatz erreichbar.

Wie kann ich jetzt mit dem Problem meines Friseurs umgehen? Die Hauptfrage ist, wie man die Menschen in eine freiheitliche demokratische Gesellschaft integrieren kann. Wenn die neue Gesinnung meines Friseurs als Folge einer für ihn in der Gesellschaft existierenden Bedrohung und Diskriminierung zu verstehen ist, dann ist die Aufgabe der Gesellschaft und Politik, sich auf die Menschen zu fokussieren, die die Integrität und das friedliche Zusammenleben mehr oder weniger, verbal oder praktisch in Frage stellen oder ablehnen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich gut an die letzten Wahlen in Berlin. Innerhalb weniger Tage war die Stadt mit NPD-Plakaten voll behängt, die das Programm der Partei mit den Schlagzeilen ankündigten wie:  „Deutsche Kinder braucht das Land!“

Was mich überrascht, ja empört, ist die Tatsache, dass kaum ein Protest aus der Mitte der Gesellschaft darüber zu hören war. Einige Male habe ich mich beim Aufhängen dieser Plakette in der Nähe aufgehalten und vergeblich darauf gehofft, dass irgend jemand dagegen protestiert. In einer Stadt, wo die Menschen bei Übertreten der Straße bei roter Ampel sich über den Täter aufregen, wird bei so einem menschenverachtenden, das Zusammenleben in der Gesellschaft gefährdenden Plakat geschwiegen??

Wie bei der Aussage von Innenminister Friedrich, scheinen mir in der Debatte über „Integration“ auch die Tatsachen auf dem Kopf gestellt zu sein. Wer soll in die Gesellschaft integriert werden, wenn nicht die Menschen, die sich mit dem NPD-Programm offen oder latent identifizieren? Eine Integration dieser Menschen ist die größte Aufgabe der Politik und Gesellschaft in Deutschland. Ein Parteiverbot allein reicht da nicht.

Ein Umdenken bei der Integrationspolitik ist daher von dringender Notwendigkeit. Die gängige Gleichsetzung und Assoziation von “Integrationspolitik“ und “Menschen mit Migrationhintergrund“ ist irreführend. Man hat die Hauptzielgruppe der Integration bis heute verfehlt, geschweige denn geeignete Maßnahmen und Wege zur Integration dieser Menschen, die ein verachtendes und diskriminierendes Menschenbild innehaben, gefunden.

Diese Politik kann allerdings nur dann Früchte tragen, wenn alle Bürger dieser Gesellschaft eine Gleichbehandlung konsequent im täglichen Leben erfahren. Es wird langfristig allen Seiten gut tun und unserer Demokratie einen festen Grund erschaffen, wenn die Chancengleichheit in Beruf und im Leben unabhängig von den ethnischen Gegebenheiten gewährleistet wird. Hier ist nicht nur die Schaffung geeigneter politischer Rahmenbedingungen notwendig. Eine aktive und gesunde Mitbürgerschaft setzt eine Identifikation der Menschen mit der Gemeinschaft voraus, die wiederum von der Teilhabe des Einzelnen abhängig ist. Das möchte ich anhand eines Beispieles verdeutlichen.

Zu lange hat man in Deutschland die Tatsache übersehen, dass die arbeitenden Menschen im öffentlichen Dienst (Schulen, Polizei, Behörden, usw.) keineswegs der Zusammensetzung der Menschen in unserer Gesellschaft entspricht. Jahrzehntelange Benachteiligung eines Teils der Mitbürger (mit sog. „Immigrationshintergrund“) hat diese Disharmonie im öffentlichen Dienst hervorgebracht. Der Öffnung des öffentlichen Dienstes für diese Mitbürger und ihre Förderung in diesem Bereich wird hierbei eine Schlüsselfunktion zukommen.

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