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Meinung: Liberale aller Klassen, einigt euch

Verantwortung als Lustprinzip: die moderne Variante einer klassischen Idee

Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. So sagte es Victor Hugo. Doch das stimmt nicht immer. Denn die Idee, deren Zeit gekommen ist – das ist der Liberalismus. Aber nichts scheint derzeit so ohnmächtig zu sein wie der Liberalismus. Immerhin: Als Schreckgespenst lebt er in der politischen Polemik – als Neoliberalismus. Wer freilich mit diesem Begriff „Neoliberalismus" gegen Reformen polemisieren will, der beweist nur seine wirtschafts- und ideengeschichtliche Unkenntnis. Schließlich hatten die Neoliberalen der „Freiburger Schule" – Eucken, Böhm und andere – justament das eine Ziel, nämlich gegen den Steinzeit-Liberalismus die soziale Verantwortung zu setzen.

Also, wie steht es mit dem Liberalismus? Wer diese Frage beantworten will, muss zunächst einmal sagen, wozu wir den Liberalismus nicht mehr brauchen. Wir brauchen zum Beispiel den Liberalismus nicht mehr als alternative Partei des im Grunde konservativen Bürgertums, also nicht mehr als „CDU minus Klerikalismus". Auch brauchen wir den Liberalismus nicht mehr in seiner national-liberalen Spielart. Die deutsche Nation ist territorial und verfassungspolitisch an ihr Ziel gekommen.

Wir brauchen den Liberalismus auch nicht mehr als ökonomische Ersatzreligion für ein Besitzbürgertum, das politisch zu lange marginalisiert war. Die alten Frontstellungen des Liberalismus sind weithin obsolet geworden. Bis auf die eine: Der Mensch ist bequem. Deshalb neigt er dazu, sich ins Gehäuse einer tendenziell obrigkeitlichen, tendenziell kollektiven Sicherheit zu flüchten – um mit einem Teil seiner Freiheit (und Selbstverantwortung) für seine fürsorgliche Betreuung zu bezahlen. Bis die Rechnung nicht mehr aufgeht…

Jetzt aber geht diese Rechnung nicht mehr auf. Jetzt muss gekürzt werden, hier wie dort. Der Kanzler kündigt harte Zeiten an. Die Krankenkassen denken über Tarife nach, die den verantwortungsvollen Umgang mit der eigenen Gesundheit honorieren. Und den Erwerbstätigen wird beigebracht, dass ihr Nettoeinkommen nicht zum sofortigen Verzehr bestimmt ist wie bei einer Straßenkapelle, die jeden Abend das gesammelte Geld versäuft, sondern dass ein Teil davon zur eigenen Zukunftsvorsorge angespart (und investiert!) werden muss.

Sind das nicht alles letztlich „liberale" Maßnahmen? Man darf sich durch solche Operationen freilich nicht täuschen lassen. Denn es macht sehr wohl einen großen Unterschied aus, ob man aus schierer Not handelt oder aus reiner Überzeugung. Und es macht einen Unterschied aus, ob alle Parteien irgendwie liberal sind – oder ob es eine Partei gibt, die immer liberal ist. Und welchen Einsichten hätten Liberale zu folgen?

Erstens: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es – und zwar selbst.

Zweitens: Es gibt zwar Menschenrechte, aber keine Anrechte ohne soziale Pflichten. Ein Liberaler wird immer fordern, dass die Bürger nicht nur über ihre Rechte, sondern auch über ihre Pflichten mitbestimmen: Beteiligungsgerechtigkeit statt Verteilungsgerechtigkeit. Oder noch prägnanter: Im Zweifel für die Freiheit der Gestaltung statt für die Gleichheit der Verwaltung.

Drittens: Bildung ist Bürgerrecht – aber auch Bürgerpflicht, denn nur wer sich selber bildet, kann auch selber mitbestimmen.

Viertens: Wer über vernünftige Gesetze mitbestimmt, der hält sich hernach auch daran. (Die lumpenliberale Parole „Wann ich mich an ein Gesetz halte, bestimme ich selber" ist eine Degenerationserscheinung – und führt letztlich zur Korruption, mit oder ohne Ehrenwort.)

Schließlich fünftens: Wer stärker ist als andere, hilft denen, die schwächer sind als andere.

Letztlich aber hat der Liberalismus nicht nur eine philosophische, sondern auch eine sinnliche Komponente: Er begreift das persönliche, das soziale, das politische Leben als eine Lust und nicht bloß als eine Last, die man möglichst anderen anvertraut, gar dem Staat.

Wer dürfte behaupten, dass ein solchermaßen gestimmter Liberalismus kraft- und machtlos sei – gerade heute?

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