zum Hauptinhalt

Meinung: LOCKERUNGSÜBUNGEN ZUM WAHLKAMPF Murmeltier und Schildkröte

Die Amerikaner sind verrückte Leute: Jedes Jahr schicken sie Fernsehteams nach Puxapawny, New Jersey, um ein Schwein zu filmen. Am Murmeltier-Tag wird es freigelassen; sein Verhalten soll Rückschlüsse auf den den nächsten Winter und den Wahlausgang zulassen.

Die Amerikaner sind verrückte Leute: Jedes Jahr schicken sie Fernsehteams nach Puxapawny, New Jersey, um ein Schwein zu filmen. Am Murmeltier-Tag wird es freigelassen; sein Verhalten soll Rückschlüsse auf den den nächsten Winter und den Wahlausgang zulassen. Amerikaner glauben wie Turner und Priester an die Macht der Wiederholung.

Wer wird sie widerlegen? Gerhard Schröder nicht. Sein Wahlkampf 2002 ist ein Klon des Erfolgsrezepts von 1998. Der jüngste Parteitag war eine Kopie der von Bodo Hombach inszenierten Show vor vier Jahren. Eine überpersonalisierte Triumphprozession, mehr Billy Graham als Kurt Schumacher. Schröders Murmeltier-Tag war der, an dem Manfred Stolpe das Amt für Matthias Platzeck räumte – ganz wie damals der Staatsstreich gegen Johannes Rau. Clement sollte der SPD Nordrhein-Westfalen retten, und jetzt Platzeck den Osten. Rau bekam das Präsidentenamt. Und Stolpe? Egal, das spielt keine Rolle.

Nach meinem Gespür wächst Bodo Hombachs Einfluss wieder, auch wenn er offiziell nicht mehr im Spiel ist. Hombach, nicht Müntefering, kalkulierte die richtige Balance zwischen Schröder und der Partei bei der Politik des vorsichtigen Wandels. Jetzt wird der Zaubertrank erneut gebraut – und Hombach ist der Miraculix des Asterix Schröder. Lafontaines Abgang erleichtert die Mixtur diesmal.

Das Herz der Strategie ist, wie 1998, Schröders Persönlichkeit: Wärme, Gespür für die Menschen, Kompetenz, Härte. Er küsst Doris öffentlich, sein Telefonat mit Rudi Völler zeigt Gespür für die Volksseele, er hat Eichel (Kompetenz) und Schily (Härte). Seine wirkliche Persönlichkeit bleibt nach vier Jahren im Kanzleramt ein Rätsel. Rainer Stephan, der für seinen Kanzler-Roman über einen Mann, der zu viel wollte, den Wahlkampf 1998 beobachtete, lässt seine Hauptfigur plötzlich in Depression fallen. Das klingt nicht nach Schröder, wie ich ihn kenne. Aber offenkundig zieht er sich vor jeder größeren Herausforderung in sich selbst zurück: wie eine Schildkröte, die Gefahr spürt. Er wirkt abwesend, rasch gelangweilt, schwer zu motivieren. Westliche Diplomaten berichten, er verliere die Konzentration, verlasse bei wichtigen Debatten den Raum (beim Gipfel in EU-Laeken), reise vorzeitig ab (vor dem Essen mit den EU-Kandidaten in Sevilla).

Die Schlüsselfrage für die Wahl 2002: Will Schröder noch die Macht? 1998 überzeugte er die Wähler von seinem Hunger danach. Doch der Machterhalt verlangt einen anderen Wahlkampf als der Machtwechsel. Heute wirkt Schröder mehr müde als hungrig. Gewiss, er hasst es zu verlieren. Aber reicht das, was er will, um zu siegen? Solange er den Deutschen nicht sagt, was er diesmal mit dem Amt anfangen und durchsetzen möchte, bleibt die SPD die schwächere Alternative.

Der Autor ist Korrespondent der „Times“.

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false