zum Hauptinhalt

Meinung: Lücken füllen in Mansfeld

Von Roger Boyes, The Times

Die sechs furchteinflößendsten Wörter im Englischen sind folgende: The doctor will see you now. Dabei ist es nicht die Schuld der Ärzte, dass sie viel öfter schlechte Nachrichten überbringen müssen als gute. Und es gibt auch Ärzte mit einer gewissen Poesie in ihrer Seele. Wenn man sich mit ihnen unterhält, wird die Krankheit beinahe zur Nebensache. Ein solcher Arzt war der brillante Internist Hans Erhard Bock, der in diesem Sommer im Garten seines Hauses in Tübingen verstarb. Er ließ sich an einem sonnigen Morgen ein Gedicht von Gottfried Benn vorlesen – aus Fernen, aus Reichen –, und dann noch ein weiteres, das so begann: „Die vielen Dinge, die du tief versiegelt durch diese Tage trägst in dir allein.“ Es endet so: „…in der du stirbst und endend auferstehst.“ Nach diesen Worten seufzte Bock, schloss seine Augen und starb. Er wurde 100 Jahre alt.

Der anmutige Tod von Dr. Bock weckte meine Neugier für den Pathologen und Dermatologen Gottfried Benn. Seine Spuren sind in ganz Berlin zu finden. Wie Virchow studierte er an der Kaiser Wilhelm-Akademie, seine pathologischen Berichte liegen noch immer im Klinikum Westend und selbst in Kreuzberg und Schöneberg (er wohnte in der Bozener Straße 20) finden sich Hinweise.

Was bringt es einem, das Leben von Gottfried Benn zu rekonstruieren? Auf jeden Fall ein Gespür dafür, dass Medizin und Literatur zusammengehören – man denke nur an Tschechow, Georg Büchner oder Alfred Döblin. Schreibende Mediziner müssen eine Balance finden zwischen Leidenschaft und Sachlichkeit, zwischen emotionaler Hingabe und nüchterner Diagnose. Benn verfügte über diese Qualitäten. Ich habe nie verstanden, warum die Deutschen ihn nicht ins Herz geschlossen haben.

2006 jährt sich der Tag von Benns Geburt in Mansfeld zum 120. Mal, sein Todestag in Berlin zum 50. Mal. Wird der „Spiegel“ ihn mit einem Titelblatt ehren, wie er es bei Schiller und Humboldt getan hat? Ich wette nein. Die einzigen Menschen, die so etwas ernsthaft in Erwägung ziehen, gehören einer Gruppe von Benn-Sympathisanten in der Prignitz an: dem „Gottfried-Benn-Förderkreis“ Mansfeld. Die jüngste Vorstandssitzung war typisch für die vielen kleinen Eigeninitiativen in diesem Land. Anwesend waren ein Dutzend intelligenter Leute, unter ihnen der energische Bürgermeister, der Vater des örtlichen Pfarrers, ein Berlin-Kenner und eine Beamtin im Ruhestand, die das wundervollste Deutsch sprach, das ich je gehört habe – mit Sätzen, die zuschnappten wie eine Möwe, die einen Fisch erbeutet. Allerdings waren keine Ärzte da; der einzige Vertreter aus der Welt der Medizin war ich, der englische Patient. Die Menschen verband im Grunde nichts, abgesehen von ihrer Liebe zu einem deutschen Dichter und der Überzeugung, dass dieser vernachlässigte Winkel Deutschlands den ihm zustehenden Platz in der Geschichte erhalten sollte.

Wie sagte Kundera noch gleich? Der Kampf des Menschen gegen die Macht ist der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen. In der DDR existierte Benn nur innerhalb seiner Literatur, auch das wiedervereinigte Deutschland ist dabei, ihn zu vergessen. Eine Lücke tut sich auf. Sollte es nicht Ziel der Wiedervereinigung sein, diese Lücken zu füllen? Ich denke, das ist wichtiger, als einen Schlecker oder Drospa zu eröffnen. Der Plan des Bürgermeisters sieht vor, das Mansfelder Feuerwehrhaus in ein Benn-Zentrum, ein Museum oder einen Seminarraum umzuwandeln. Dafür braucht er 100 000 Euro, die das Dorf nicht hat.

Also schön, dies ist eine Bettel- Glosse. Gibt es nicht irgendwo in Berlin einen reichen Arzt, der sich nach einem Waldspaziergang gern bei der Lektüre von Benn entspannt?

-

Zur Startseite