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Absperrband vor dem Klassenraum - bald der Normalfall? In manchen Berliner Schulen wird "akute Gefahr" durch Gebäudemängel beklagt.

© dpa

Marode Infrastruktur: Ernie, der Wasserhahn tropft!

Was Politik und Sesamstraße gemeinsam haben.

Ernie und Bert haben sich gerade schlafen gelegt, da hört Bert ein Geräusch aus dem Bad. „Ernie, der Wasserhahn tropft“, sagt er. Darauf Ernie: „Oh ja, dann habe ich den wohl nicht richtig zugedreht.“ So könne er nicht einschlafen, klagt Bert, Ernie möge bitte etwas tun. Da steht Ernie auf und stellt das Radio an. So werde Bert den Wasserhahn wohl kaum noch hören, sagt er und will sich wieder hinlegen. Aber Bert schreit, dass ihm jetzt das Radio zu laut sei, so könne er auch nicht schlafen. Da zieht Ernie abermals los und macht den Staubsauger an, der dröhnend das Radio übertönt. Nun könne Bert wirklich nicht mehr meckern, findet Ernie und legt sich zufrieden ins Bett.

Statt dass Berlin die Schulen saniert, bewirbt es sich für Olympia

Auf bestürzende Weise wirken die beiden Sesamstraßenhelden und ihr Lärmproblem wie eine Parabel auf die Lage im Land: Wenn die Berliner klagen, dass die Schulen vergammeln, die Toiletten stinken und der allgemeine Bauzustand eine "akute Gefahr" darstellt, wie dieser Tage aus Steglitz- Zehlendorf zu lesen war – und der Senat, statt diese Probleme zu beheben, anregt, sich für Olympia zu bewerben. Wenn Wirtschaft und Privatleute jammern, weil Straßen verrotten, Schlaglöcher und Baustellen den Verkehr behindern, Lieferungen ausbleiben, Abläufe ins Stocken geraten – und statt dass die Regierung Sanierungstrupps losschickt, verkündet sie Sonderrentenprogramme mit ungeklärten Folgekosten. Wenn in Sachen Rüstung über milliardenteure Drohnenprojekte gestritten wird, während in der Garage die Panzer auseinanderfallen. Ist das dann so viel anders als das, was Ernie macht?

Infrastruktur, das kann man nachlesen, ist ein Begriff, der sich aus den lateinischen Wörtern „infra“ für „unterhalb“ und „structura“ für „Zusammenfügung“ bildet und etwas wie „Unterbau“ bedeutet. Ohne stabilen Unterbau ist kein stabiler Oberbau möglich. Eine Binsenweisheit, schmählich ignoriert. Warum eigentlich? Die naheliegende Antwort: weil Instandhaltung und Pflege langweilig sind, weil das jeder kann und niemandem Glanz und Gloria einbringt. Und weil ein gut in Schuss gehaltenes sanierungsstaufreies Deutschland am Ende lediglich noch massiver als bisher seinen nicht so gut gewarteten EU-Nachbarn helfen müsste.

Die politische Logik wirkt im Alltag kalt und zynisch

Das ist ein Denken, das innerhalb des politischen Systems seine Berechtigung haben mag. Aber außerhalb nicht – dort, wo die Bürger mit dem Fahrrad in die Schlaglöcher plumpsen, Grundschulkinder sich heulend ihr Bedürfnis verkneifen und Oberschülern aus defekten Decken krebserregende Fasern in die Bücher rieseln. Da wirkt das kalt und zynisch.

Im Stau stehen, Zeit verlieren, Geld verlieren, Nerven verlieren.
Im Stau stehen, Zeit verlieren, Geld verlieren, Nerven verlieren.

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Der Unterbau ist die Basis, deren Zustand muss Priorität haben. Gerade, wenn es um Schulen, Straßen, Schienen geht, denn deren Defizite und Schwachstellen bekommt jedermann zu spüren. Und aus den vielen Jedermännern und -frauen besteht dieser Staat. Nicht aus den Entscheidern. Das sollte nicht vergessen werden.

Die vielen Jedermänner und -frauen zahlen Monat um Monat jede Menge Steuern, damit dieser Unterbau, der alles trägt und möglich macht, funktionsfähig gehalten wird. Diese Steuern fallen an bei ihrer Arbeit, aber zur Arbeit muss man eben auch hinfahren. Per Rad, Auto oder Bahn. Und um überhaupt eine Arbeit zu bekommen, muss man vorher zur Schule gehen. Je besser dieser Unterbau funktioniert, desto mehr Energie kann in den Oberbau fließen. Das Besondere daran ist: Am Ende wird sogar noch mehr erwirtschaftet, und es fließen noch mehr Steuergelder in die Säckel von Bund, Land, Kommunen.

"Das ist nicht fair", sagt Bert - recht hat er

Aber das ist rückwärts argumentiert und gedacht, so wie Bert es machen würde: Problem bemerken, zurückverfolgen zum Anfang, Ursache erkennen und beheben. In der Regel läuft es nach dem Prinzip des viel beliebteren Ernie: Problem bemerken, neues schaffen, altes vergessen. Wundersamerweise funktioniert Deutschland trotzdem. Seit Jahrzehnten wird über den nahenden umfassenden Infrastrukturkollaps geklagt, und bisher blieb er aus. Kinder gehen in Schulen, Erwachsene zur Arbeit, Steuern fließen.

Bert steht am Ende übrigens selbst auf und stellt den Staubsauger aus und das Radio ab und dreht den Wasserhahn zu. So wie nicht wenige Eltern wochenends die gröbsten Mängel in den Schulen inzwischen selbst beheben, Autofahrer und Bahnpendler früher aufstehen und zu jeder Baustellenmeldung die Alternativstrecken und Ersatzbusrouten kennen.

Als Bert sich dann endlich auch ins Bett legt, schnarcht Ernie schon. Laut und unüberhörbar. „Das ist nicht fair“, sagt Bert. Recht hat er.

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