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Auf der Berlinale unterwegs: Harald Martenstein.

© Thilo Rückeis

Martenstein: Schuld sind immer die anderen!

Manche Politiker klammern sich heute fast wie Diktatoren an ihre Ämter, Schuldenländern wird mit Milliarden geholfen. Die Idee der Verantwortung gilt zunehmend als altmodisch, meint Harald Martenstein - oder sogar als menschenfeindlich.

Mir fällt auf, dass es einen neuen Megatrend gibt. In der Politik sind ja früher die Leute zurückgetreten nicht nur, wenn ihnen selbst etwas Verwerfliches vorzuwerfen war, nein, manche sind sogar zurückgetreten, wenn in ihrem Verantwortungsbereich einer ihrer Untergebenen etwas ausgefressen hatte. Willy Brandt zum Beispiel. Dieser Brauch scheint auszusterben. Lothar Späth ist damals zurückgetreten, weil ihm Urlaubsreisen von anderen bezahlt wurden. Ein Ministerpräsident namens Glogowski ist zurückgetreten, weil ihm ein Unternehmer einen Teil seiner Hochzeitsparty bezahlt hat. Kurt Biedenkopf ist unter anderem deshalb zurückgetreten, weil er bei Ikea Rabatte bekam. Bei Rudolf Scharping waren es schicke Anzüge, die ihm geschenkt wurden. Inzwischen treten Politiker eher deshalb zurück, weil sie auf ihren Job keine Lust mehr haben oder weil ein Angebot aus der Wirtschaft vorliegt. Andere demokratische Politiker, in Duisburg oder in Berlin, klammern sich fast wie Diktatoren an ihre Ämter. Dies wird jetzt aber keine moralische Empörungs- oder Antipolitikerkolumne. Ich möchte einfach nur eine Veränderung beschreiben.

Wenn ein Land zu viel Geld ausgab, dann war dieses Land, so wollte es die Tradition, nach einer gewissen Zeit pleite. Heute scheint das nicht mehr möglich zu sein, andere Länder helfen dem Pleiteland aus der Patsche. In der Wirtschaft dagegen war es so, dass ein Unternehmen kaputtging, wenn es schwere Fehler machte. Zumindest für Banken und Konzerne scheint mir dieses Gesetz weitgehend außer Kraft gesetzt zu sein. Im Strafrecht hat sich der Gedanke ausgebreitet, dass Täter selten aus individueller Schuld zu Tätern werden, sondern meist infolge von Umständen, die sie nicht zu verantworten haben. Die frühere Rolle der Familie, eine Generation sorgt für die andere, hat zu großen Teilen der Staat übernommen. Wenn ein Kind in der Schule schlechte Noten hatte, dann machten früher die Eltern dem Kind Stress, dies habe ich selber erleben dürfen. Jahre später, als Vater, erlebte ich, dass viele Eltern für die Noten ihrer Kinder den Lehrer verantwortlich machen, oder die Schule, oder gleich das ganze Erziehungssystem.

Ich möchte das gar nicht pauschal kritisieren, jede dieser Entwicklungen hat ihr Für und Wider, und über jede von ihnen müsste man getrennt diskutieren. Es gibt aber doch eine auffällige Gemeinsamkeit. Die Idee, dass Handelnde im Wesentlichen selbst für ihre Taten, für ihr Leben, für ihre Erfolge und Misserfolge, auch für die Menschen, die ihnen nahestehen, verantwortlich sind, diese Idee der Verantwortung gilt in den verschiedensten Bereichen zunehmend als altmodisch oder sogar menschenfeindlich.

Jeder ist seines Glückes Schmied. So lautete eine, selbstverständlich ideologische und nicht ganz wahre, Kernidee des Kapitalismus. Das Individuum soll frei sein, es hat die Wahl, es kann scheitern oder gewinnen. Wir haben jetzt eine neue Ideologie: Schuld sind immer die anderen. Handlungen dürfen niemals Folgen haben. Deshalb glaube ich, dass wir in Wahrheit längst nicht mehr im Kapitalismus leben, sondern in etwas anderem, einem System, für das es noch keinen Namen gibt und dessen erster Systemkritiker ich gern wäre.

Ich lehne es, aus Gründen, die Sie jetzt sicher begreifen, ab, für meine Kolumnen irgendeine Verantwortung zu übernehmen. Ich bin für das, was ich schreibe, nicht zuständig. Wenden Sie sich an die Verwaltung, an den Staat, an meine Eltern, suchen Sie sich etwas aus. Und freiwillig zurücktreten werde ich auch nicht.

Dieser Text erschien zuerst bei Zeit Online.

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