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Spät in der Nacht zu Mittwoch löst die Polizei in Mahalla, nördlich von Kairo, eine Demonstration von Mursi-Gegnern mit Tränengas auf.

© dpa

Massenproteste in Kairo: Ägypten wird im Machtpoker verzockt

Im ägyptischen Machtpoker spielen Präsident und Justiz mit gezinkten Karten, meint Martin Gehlen. Die Opposition ist schwach und am Ende verliert das ganze Land.

Ägyptens Machtkampf spaltet das Land. Parteizentralen der Muslimbrüder brennen. Empörte Bürger demonstrieren. Und immer mehr Ägypter fragen sich knapp zwei Jahre nach ihrer Revolution, wo das alles enden soll. In Kairos Machtpoker spielt jeder mit gezinkten Karten.

Der Kern des Konflikts ist die Frage, was für ein Ägypten in der neuen Verfassung auf Jahrzehnte verankert werden soll. Die islamistische Mehrheit will eine vom Islam geprägte Grundordnung. Die säkularen Kräfte wollen dies im Schulterschluss mit der koptischen Minderheit und den alten Mubarak-Eliten um jeden Preis verhindern. Die Eskalation um Mursis Dekrete aber zeigt, dass keines der Lager sich durchsetzen können wird, ohne die gesamte Nation in heillose Turbulenzen zu stürzen.

Präsident Mohammed Mursi katapultierte sich per Dekretserie zum Diktator auf Zeit. Das Verfassungsgericht, vollgestopft mit alten Mubarak-Günstlingen, spielt sich auf als politische Widerstandszentrale gegen die Muslimbrüder. Nach dem Parlament im Juni wollten die Höchsten Richter die Verfassunggebende Versammlung und das Oberhaus zertrümmern – die beiden anderen per Abstimmung legitimierten Institutionen des Landes. Gleichzeitig wollen sie dem demokratisch gewählten Staatschef Mursi die anrüchigen Selbstermächtigungsdekrete des Obersten Militärrats vom Juni 2012 erneut vor die Nase setzen.

Ägypten wäre wieder bei Stunde null. Alle post-revolutionären Wahlen wären nichtig, der Präsident erneut zu einer Marionette der Armee degradiert und der Weg der Nation am Nil zu demokratisch legitimierten Institutionen blockiert. Denn einen politischen Fahrplan, wie es hätte weitergehen sollen, hat niemand. Ägyptens Opposition ist schwach, chaotisch und zerstritten. Liberale und Säkulare haben zur Lösung der Probleme bisher wenig Konstruktives beigetragen. Mohammed Mursi wiederum hat den Bogen überspannt. Statt mit einem klugen Präzisionsdekret zugunsten von Verfassunggebender Versammlung und Oberhaus zu operieren, unterwarf der Präsident sich gleich die gesamte Judikative. Dabei hätte er die Mehrheit der jüngeren Richter, denen die Dominanz der alten Mubarak-Cliquen schon lange auf die Nerven geht, leicht auf seine Seite ziehen können. Stattdessen tragen ihm seine Dekrete den Vorwurf pharaonischer Machtgier ein, bringen empörte Volksscharen auf die Beine und einen die politische Opposition wie nie zuvor.

Präsident, Justiz und Opposition – alle haben die gefährlich verfahrene Situation in Ägypten mit heraufbeschworen. Alle Seiten müssen sich nun zu Kompromissen zusammenraufen, sollen Ägyptens Chancen gewahrt bleiben, den post-revolutionären Übergang zu meistern. Der Oberste Richterrat baute Mursi mit dem Vorschlag, die Machtdekrete auf den konkreten Schutz für Verfassunggebende Versammlung und Oberhaus einzuschränken, bereits eine goldene Brücke.

Säkulare Kräfte und Kirchen wiederum könnten ihren Boykott der Verfassunggebenden Versammlung aufgeben, wenn sie eine wirksame Sperrminorität gegen die Scharia-Wünsche der bisher übermächtigen Mehrheit zugesprochen bekämen.

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