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MEIN Blick: Sarrazin, Stuttgart 21 und die Wegseher

20 Minuten Fahrzeitersparnis können vor der emotionalen Herausforderung eines betriebswirtschaftlichen Abräumens kultureller Überlieferungen so wenig bestehen wie der angebliche volkswirtschaftliche Nutzen multikultureller Zuwanderung in eine alternde Gesellschaft vor Überfremdungsängsten. Politik sollte Emotionen ernst nehmen.

Von wegen: Das Buch ist überhaupt nicht hilfreich! Selten noch lag das Urteil der amtierenden Bundeskanzlerin so weit neben der Sache wie das Verdikt Angela Merkels über Thilo Sarrazins Millionen-Hit. Plötzlich wird ein Problem benannt, das vorher kaum, und wenn, dann allenfalls auf der Ebene eines Berliner Bezirksbürgermeisters und einer Jugendrichterin diskutiert wurde.

Und selbst eine unhinterfragte Phrase wie die des Bundespräsidenten (Der Islam gehört zu Deutschland) erntet lebhaften Protest und zwar aus dem intellektuellen Mainstream. Hans-Ulrich Wehler und Ralph Giordano sind nun einmal nicht in rechte Ecken zu verbannen. Selbst die Multikultipartei pur, die Grünen, entdecken plötzlich auf Schulhöfen und Sportplätzen Deutschfeindlichkeit und umgekehrten Rassismus – sieht man einmal von der ewig unbelehrbaren Claudia Roth ab.

Doch so sehr sich die Warner vor der unbegrenzten Einwanderungsgesellschaft Deutschland darüber freuen müssten, dass endlich diskutiert wird, was längst offenbar war, so traurig muss die Anhänger einer rationalen politischen Diskussion dieses Ergebnis stimmen. Denn nicht die Tatsachen und vielfältigen Beobachtungen wie sie nun auch von GEW-Lehrern gemacht werden, haben diese Diskussion ausgelöst, sondern eine Provokation zwischen zwei Buchdeckeln, eine Grenzüberschreitung des in Deutschland immer enger werdenden Raums der politischen Korrektheit. Thilo Sarrazin, ob nun in manchem richtig oder in allem falsch, war nützlich, weil er die Watte des Wohlmeinend-Nachsichtigen durchstoßen hat, die sich der Bundespräsident umgehend bemühte, wieder auf der Wunde anzuhäufen. Das heißt aber eben auch, dass Debatten nicht dann geführt werden, wenn oder weil sie notwendig sind, sondern nur dann, wenn die Menschen aufmerken, wenn die eigene Betroffenheit so groß ist, dass Wegsehen unmöglich scheint – also schon fast zu spät.

Für das andere große innenpolitische Thema – Stuttgart 21 – heißt das, dass es fast sinnlos ist, wie es Richard Schröder tut, auf die formale Legalität und rechtsstaatliche Ordentlichkeit von Beschlüssen über lange Planungszeiträume zu verweisen, wenn ein denkmalgeschütztes Gebäude von Baggern zusammengeschoben wird oder 200 Jahre alte Platanen splittern. Die Notwendigkeit einer Ost-West-Verbindung mit 20 Minuten Fahrzeitersparnis auf dem Wege nach irgendwo und tausende Jobs können vor der emotionalen Herausforderung eines betriebswirtschaftlichen Abräumens kultureller Überlieferungen so wenig bestehen wie der angebliche volkswirtschaftliche Nutzen multikultureller Zuwanderung in eine alternde Gesellschaft vor Überfremdungsängsten und dem Wunsch, dass unsere Enkel auch in 100 Jahren noch Wanderers Nachtlied kennen.

Das Verbindende beider Krisen ist dies: Politik scheitert immer dann, wenn sie vor Emotionen nur warnt statt sie ernst zu nehmen und sich auf sie einzustellen.

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