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Meinung: Mein Vermächtnis

Privileg und Verantwortung: fünf Lektionen für das 21. Jahrhundert / Von Kofi Annan

V or fast 50 Jahren, als ich als Student aus Afrika nach Minnesota, USA, kam, hatte ich viel zu lernen – angefangen bei der Tatsache, dass es nicht ungewöhnlich ist, bei Minusgraden Ohrenwärmer zu tragen. Mein ganzes Leben war seither ein Lernprozess. Jetzt möchte ich fünf Lektionen weitergeben, die ich in den zehn Jahren als Generalsekretär der Vereinten Nationen gelernt habe – Lektionen, von denen ich glaube, dass sie die Staatengemeinschaft aufgrund der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lernen müssen.

Erstens sind wir alle in der heutigen Welt für die Sicherheit der anderen verantwortlich. Gegen Bedrohungen wie die Verbreitung von Atomwaffen, Klimawandel, globale Pandemien oder Terrorismus kann sich keine Nation absichern, indem sie versucht, eine Vormachtstellung gegenüber anderen zu erreichen. Nur indem wir auch anderen Sicherheit verschaffen, können wir auch für uns selbst dauerhafte Sicherheit erlangen.

Diese Verantwortung beinhaltet auch, die Menschen vor Völkermord, Kriegverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemeinsam zu schützen. Dies wurde von allen Staaten beim UN-Gipfel im vergangenen Jahr beschlossen. Aber wenn wir an die Menschen in Darfur denken, wie sie Mord, Vergewaltigung und Hunger erleiden, dann müssen wir auch erkennen, dass solche Beschlüsse nur hohle Phrasen sind, wenn nicht diejenigen, die die Macht zur Intervention besitzen, bereit sind, die Führung zu übernehmen und politische, wirtschaftliche oder militärische Maßnahmen zu treffen.

Dies schließt auch eine Verantwortung für künftige Generationen ein, um die Ressourcen zu schützen, die ihnen wie auch uns gehören. Durch jeden Tag, an dem wir nichts oder zu wenig tun, werden für unsere Kinder etwa die Kosten für den Klimaschutz nur noch höher.

Zweitens sind wir auch für das Wohlergehen des anderen verantwortlich. Ohne Solidarität gibt es keine stabile Gesellschaft. Es ist nicht sehr realistisch zu glauben, dass einige durch die Globalisierung weiter große Gewinne erwirtschaften können, während Milliarden andere in tiefer Armut bleiben. Wir müssen allen Menschen zumindest die Chance bieten, an unserem Wohlstand teilzuhaben.

Drittens hängen Sicherheit und Wohlstand vom Respekt vor den Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ab. Während der gesamten Menschheitsgeschichte, sind die Menschen durch Vielfalt bereichert worden und unterschiedliche Gemeinschaften konnten voneinander lernen. Wenn unsere Gemeinschaften in Frieden leben sollen, müssen wir das betonen, was uns verbindet: unsere gemeinsame Menschlichkeit und die Notwendigkeit, menschliche Würde und Rechte durch Gesetze zu schützen.

Das ist auch für die Entwicklung entscheidend. Sowohl Ausländer als auch Bürger eines Staates sind bereit für Investitionen, wenn ihre Grundrechte geschützt werden und sie wissen, dass sie von der Justiz fair behandelt werden. Eine Politik, die tatsächlich die Entwicklung fördert, wird auch eher angenommen, da die Menschen, die Entwicklung am dringendsten benötigen, ihre Stimme hörbar machen können.

Staaten müssen sich an die Regeln halten, auch im zwischenstaatlichen Bereich. Keine Gemeinschaft leidet an zu viel Rechtsstaatlichkeit. Viele leiden an zu wenig davon und die internationale Gemeinschaft ist unter ihnen. Das müssen wir ändern.

Viertens müssen deshalb Regierungen rechenschaftspflichtig für ihre Taten im internationalen wie im nationalen Rahmen sein. Jeder Staat schuldet einem anderem Staat eine gewisse Rechenschaft für Aktionen, die erhebliche Auswirkungen haben.

So wie die Dinge stehen, werden arme und schwache Staaten einfach zur Verantwortung gezogen, weil sie ausländische Hilfe benötigen. Aber große und mächtige Staaten, deren Aktionen die größten Auswirkungen auf andere haben, können nur durch die eigene Bevölkerung im Handeln eingeschränkt werden.

Das gibt der Bevölkerung und den Institutionen mächtiger Staaten eine besondere Verantwortung, die weltweiten Sichtweisen und Interessen zu berücksichtigen. Auch müssen sie heutzutage „nichtstaatliche Akteure“ berücksichtigen. Staaten können nicht länger – wenn sie es denn jemals konnten – globalen Herausforderungen alleine gegenübertreten. Zunehmend brauchen sie die Unterstützung von unzähligen Verbänden, denen sich Menschen freiwillig für einen bestimmten Nutzen anschließen oder in denen sie über die Welt nachdenken und sie verändern.

Wie können Staaten sich gegenseitig zur Verantwortung ziehen? Nur durch multilaterale Einrichtungen.

Fünftens müssen aus diesem Grund diese Einrichtungen fair und demokratisch organisiert sein, um den Armen und Schwachen einen gewissen Einfluss auf die Aktionen reicher und starker Staaten zu geben.

Entwicklungsstaaten sollten eine gewichtigere Stimme in internationalen Finanzinstitutionen haben, deren Entscheidungen Leben oder Tod für ihre Bevölkerung bedeuten können. Auch sollte der UN-Sicherheitsrat, dessen Zusammensetzung die Realitäten von 1945 und nicht die heutige Welt widerspiegelt, neue ständige oder Langzeitmitglieder erhalten.

Alle Sicherheitsratsmitglieder müssen – was nicht weniger wichtig ist – akzeptieren, dass aus ihrem Privileg Verantwortung folgt. Der Rat ist keine Bühne zum Handeln aus nationalen Interessen. Er ist der Lenkungsausschuss unseres in den Kinderschuhen steckenden globalen Sicherheitssystems.

Die Menschheit benötigt heute mehr als jemals ein funktionierendes globales System. Die Erfahrung hat immer wieder gezeigt, dass das System schlecht funktioniert, wenn seine Mitgliedstaaten gespalten und ohne Führung sind, es aber viel besser funktioniert, wenn es Eintracht, weitsichtige Führung und das Engagement aller großen Akteure gibt. Die Staats- und Regierungschefs von heute und morgen haben eine große Verantwortung. Die Völker der Welt müssen zusehen, dass sie ihr gerecht werden.

Der Autor ist Generalsekretär der Vereinten Nationen. Seine Amtszeit endet am 31. Dezember.

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