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Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

© promo

MEINE Heimat: Butter aus der Ziege melken

Die Agenda 2010 hat all diejenigen abgehängt, die das jetzige Wirtschaftssystem nicht mehr braucht. Damit ist aber auch klar, wie eine Agenda 2020 aussehen müsste - und auch darum sollte sich der Staat kümmern.

Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst. Diesen Satz von John F. Kennedy kennt fast jeder. Heute klingt das so: Diejenigen, die durch ihre Sozialbeiträge Solidarität üben, dürfen erwarten, dass sich die, die davon profitieren, gehörig anstrengen, um dem System möglichst kurz zur Last zu fallen. Dieser Satz stammt von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück. Meinen beide Politiker dasselbe?

Inhaltlich ist zur Agenda 2010 letzte Woche aus allen Positionen heraus geschrieben, gesprochen und gestritten worden. Meinen Senf muss ich nicht auch noch dazugeben. Einen Kommentar kann ich mir allerdings nicht verkneifen. Beide Lager stehen sich spinnefeind gegenüber, die Frontlinie verläuft aber ganz woanders.

Richtig scheint, dass unser Land derzeit vor Wettbewerbsfähigkeit nur so strotzt. Richtig ist auch, dass wir diesen Umstand den Arbeitnehmern zu verdanken haben. Die Unternehmenssteuern wurden gesenkt, die Arbeitskosten sanken rapide, die Verbrauchssteuern stiegen, Energie- und Mietkosten stiegen weit über die Lohnsteigerungen hinaus. Hinzu kamen Selbstbeteiligungen im Gesundheitswesen und die Aussicht einer drastischen Rentenabsenkung. Nun unterstelle ich einmal ganz naiv, das musste so sein, um die Konkurrenz abzuhängen.

Meine Agenda 2020 wäre demnach auch ganz simpel: Wir haben mit der Agenda 2010 ein Fünftel unserer Bevölkerung abgehängt. Die entscheidende Frage ist also: Wollen wir, dass sie wieder dazugehören und Chancen bekommen oder nicht? Ich sage das, weil sich dieser Teil der Bürger mangels Möglichkeit mit 8 Euro für Kultur im Monat nicht mehr einbringen oder engagieren kann. Menschen, die in Hartz IV sind, haben sich das nicht ausgesucht. Die derzeitige Wirtschaftsstruktur braucht sie nicht mehr.

Wenn also diese Grundfrage geklärt ist, wird es ganz einfach. Wir, die Bürger, müssen uns die Mühe machen zu verstehen, was uns von den Entscheidern vorgesetzt wird. Das geht nicht mit der mickrigen Berichterstattung über die weite Welt da draußen. Wenn die Quintessenz lautet, dass wir im internationalen Wettbewerb nur minimale Zuwächse erzielen können, muss der Staat sich um preiswertes Wohnen, Gesundheit, Bildung und Altersversorgung kümmern, damit wir Bürger angstfrei unsere Talente einbringen können, damit etwas Neues entsteht.

Oder aber, wir alle profitieren von den Gewinnen, die in unserem Land erzielt werden und lösen unsere Probleme selbst, bis auf Innere Sicherheit, Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und Rente. Dafür braucht man nämlich einen Staat, weil das vom Einzelnen nicht gestemmt werden kann.

Um Arbeitsplätze neu zu besetzen, müssen wir internationaler, offener, toleranter und liberaler werden. Mir bereitet das kaum Probleme, solange mein Staat das Grundgesetz auch lebendig umsetzt. Oder wie man Vater sagen würde: „Cobanin gönlü isterse tekeden yag cikarir“ – wenn der Hirte den Willen hat, melkt er Butter aus der Ziege.

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