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Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

© promo

MEINE Heimat: Im Traum im Dschungelcamp

Es ist wie Sissi-Filme-Gucken: Ich weiß, dass es bestimmt nie so war, was mich aber nicht davon abhält, mich nach so einer Zeit zu sehnen

Was war das schön, als Kind krank zu sein. Ich wurde umsorgt, behütet, bekam zu essen, was ich wollte, und durfte im Wohnzimmer auf der Couch liegend den ganzen Tag in den Röhrenfernseher gucken. Ja, ich gebe es zu, ich bin auf der Suche nach Mitleid. Ich bin krank, fühle mich hundsmiserabel und niemand kümmert sich um mich. In diesen Momenten hasse ich meine Single-Existenz, die mich einsam der Grippe ausliefert.

Ganze fünf Minuten widmet sich der Arzt meinem Leid und schreibt ratzfatz ein Rezept aus. Antibiotika gegen einen Virusinfekt, das so hilfreich ist, wie Spardiktate zur Belebung der Konjunktur. Wehrlos akzeptiere ich das Punktesammeln des Gesundheitsdienstleisters, damit er das Maximale aus meiner Krankenkasse herausholen kann. Ich bin ja nur ein namenloses Opfer. Neige ich etwa zur Larmoyanz, wenn es mir dreckig geht und keine Sau sich dafür interessiert?

Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist für mich auch ein Relikt aus einer Zeit, die ich nie kennenlernen durfte. Es ist wie Sissi-Filme-Gucken: Ich weiß, dass es bestimmt nie so war, was mich aber nicht davon abhält, mich nach so einer Zeit zu sehnen. So heule ich mein Defizit an Zuneigung einfach weg. Apropos Fernsehen. Zwischen Hustenanfällen, Schüttelfrostattacken und brennendem Verlangen, dass irgendwer den geschwollenen Hals kühlt, hänge ich vor der Glotze. Es ist schon seltsam, dass ein Dopingsünder mehr Sendezeit bekommt als der Krieg in Mali. Dass Steinbrücks Weinpräferenzen mehr Raum einnehmen als der Stellenabbau in steuerbegünstigten Großbanken.

Und als ob das nicht schon reichen würde, gibt es das komplett schmerzfreie Ekelprogramm im Privatfernsehen. Zwischen zwei Fieberschüben dämmere ich weg und träume vom „Dschungelcamp“. Caren Miosga und Jörg Schönenborn moderieren die Sendung, die im Park des Bundeskanzleramts gedreht wird. Peer Steinbrück verlässt schon nach einem Tag das Camp, weil er es als Zumutung empfindet, Pinot Grigio aus einer Flasche mit Schraubverschluss zu trinken. Wolfgang Kubicki flirtet mit Sahra Wagenknecht und will sie davon überzeugen, dass sie viele Gemeinsamkeiten mit ihm hätte. Andrea Nahles ist auch da. Sie scheitert schon an ihrer ersten Dschungelprüfung, weil sie keinen einzigen politischen Gedanken ohne Arroganz zu Ende bringen kann. Und fast wäre sie sogar im Schlammbad ertrunken, weil die Brille von Ronald Pofalla beim Anblick der Kampfamazone von innen beschlägt. Nur Renate Künast hat sichtlichen Spaß in ihrem tarngefleckten Kampfanzug, mit Peter Ramsauer das Lied „Über den Wolken“ einzusingen.

Als ich schweißgebadet wach werde, denke ich an meine Tante in Anatolien, die Träume deuten kann. Sie würde sagen, dass meine Seele unter den Belanglosigkeiten so sehr leide, dass sie sich im Traum gegen den Flachsinn wehre. Oder wie mein Vater sagen würde: „Hastalik kantarla girer, miskalle cikar“: Die Krankheit kommt mit der Waage und geht mit der Goldwaage.

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