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Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

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MEINE Heimat: Um die Klugheit wissen

Nach dem Tod von Stéphane Hessel und dem Rückzug von Benedikt XVI.: Die Alten sind nicht groß, weil sie alt sind. Sie sind groß, weil sie für Ansichten stehen, die anerkannt oder abgelehnt werden können, aber durchdacht waren.

Mein Großvater war da. Er ist zwar schon vor 20 Jahren gestorben, aber in meinen Gedanken war er sehr präsent. Mein Vater hatte ihn zu uns nach Hause geholt, da war er schon sehr alt. In seinem Pass stand sein Geburtsdatum: 1902. Kein Tag, kein Monat, nur das Jahr. Mein Großvater war ein großer Mann, groß im Sinne von weise. Und wie er bei uns in Duisburg einzog, hätte man glauben können, dass er, der Bauer aus Anatolien, völlig überfordert wäre in unserer Welt. Gasthermen und Badewannen, Tiefkühlwaren und Fernseher, und die Hektik einer Industriestadt, der schon damals die Luft ausging. Nein, mein Großvater nahm das alles gelassen hin.

Er beobachtete oft mit mir gemeinsam die Welt da draußen, und er erhielt sich bis zu seinem Tod die Neugier. Er war gläubig, in seinem Glauben pragmatisch, offen und tolerant. Cool würde man ihn heute nennen. Er hatte seinen Spaß daran, dass wir, seine Enkelinnen, auf weiterführende Schulen gingen. Allah würde sich schon etwas dabei gedacht haben.

Jetzt ist mein Großvater wieder aufgetaucht. Vermutlich aus zwei Gründen: Stéphane Hessel ist gestorben. Der Berliner Franzose, der in der Résistance wirkte, bis ihn die Nazis in ein Konzentrationslager steckten, der an der Erklärung der Menschenrechte mitwirkte und mit seinem Büchlein „Empört Euch“ die Massen für sich gewann. Der zweite Grund ist der Papst. Er trat zurück, weil er nicht mehr konnte. Zwischen beiden Männern Parallelen zu knüpfen, ist nicht ganz einfach, dennoch: Sie hatten in ihrem Wirken eine Haltung, eine Meinung, eine Ideologie. Beide wirkten als Überzeugungstäter und nicht als demoskopiegesteuerte Nachläufer. An beiden konnte man sich abarbeiten, sie bewundern, bekämpfen oder unterstützen. Aber man konnte sie nicht ignorieren. Ihre Überzeugungen hatten ein Fundament. Das muss man nicht mögen, aber respektieren.

Sogar ein Helmut Schmidt erklärte Marc Aurel, Niccolo Machiavelli und Karl Popper zu seinen prägenden Gestalten. Marc Aurel sah sich dienend seinem Staat gegenüber, nur seine Seele war sein Privatbesitz, die es zu schützen galt. Machiavelli fasse ich auf einen Satz zusammen: Sei gut, wenn du kannst, und böse, wenn du musst, dann aber richtig. Popper brachte Schmidt den Gedanken näher, dass man Ungleichheit nur dadurch überwindet, dass diejenigen, die mehr brauchen, um zu gleichen Chancen zu gelangen, auch mehr bekommen sollten. Selbst der beliebteste Kettenraucher der Republik greift auf die Ideen anderer zurück.

Die Alten sind nicht groß, weil sie alt sind. Sie sind groß, weil sie für Ansichten stehen, die anerkannt oder abgelehnt werden können, aber durchdacht waren. Wir Jungen müssen das nicht übernehmen, sollten uns aber davor hüten, das nachzuplappern, was sich die Schlaumeier ihr ganzes Leben lang mühsam auf die Festplatte geschafft haben.

Oder wie mein Vater sagen würde: „Akilli söyledigini bilir, ahmak bildigini söyler“ – Der Kluge weiß, was er sagt, der Dumme sagt, was er weiß.

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