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Merkel in der Türkei: Besuch bei einer aufstrebenden Macht

Zwischen Deutschland und der Türkei machen Empfindlichkeiten auf beiden Seiten jede Meinungsverschiedenheit zu einer Streitfrage. So auch jetzt wieder beim Thema türkische Gymnasien in Deutschland. Ein Kommentar unseres Istanbul-Korrespondentin Susanne Güsten.

Deutsch-türkische Spitzentreffen wie der Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ankara und Istanbul an diesem Montag und Dienstag sind nie Routine. Für jedes der beiden Länder ist das jeweils andere ein hochemotionales Thema, und die Empfindlichkeiten auf beiden Seiten machen jede Meinungsverschiedenheit zu einer potenziell heftig umstrittenen Streitfrage. Das gilt heute mehr denn je, denn die Türkei betrachtet sich selbst als aufstrebende Regionalmacht, die selbst Akzente setzt. Das dürfte Merkel bei ihrer ersten Türkei-Reise seit vier Jahren zu spüren bekommen. Schon im Vorfeld gab es Krach um die Forderung des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan nach der Einrichtung türkischer Gymnasien in Deutschland, die Merkel und andere deutsche Politiker postwendend ablehnten. Umgekehrt will Ankara nichts von Merkels Vorschlag einer „privilegierten Partnerschaft“ zwischen Türkei und Europa als Ersatz für die angestrebte EU-Mitgliedschaft wissen. Erdogan wird die Kanzlerin nicht nur mit der Forderung nach türkischen Gymnasien in der Bundesrepublik konfrontieren, sondern auch eine rasche Aufhebung der Visumspflicht für Türken bei Reisen nach Europa verlangen. Für Merkel liegt ein solcher Schritt in weiter Zukunft. Auch im iranischen Atomstreit sind Deutsche und Türken verschiedener Meinung. Unter Erdogan hat die Türkei ein völlig neues Verständnis von ihrer eigenen Rolle in der Region und in der Welt entwickelt. Im Kalten Krieg war Ankara ein treuer Verbündeter des Westens, der kaum Probleme machte. Auch in den 1990er Jahren war von türkischen Impulsen auf internationaler Ebene kaum etwas zu spüren, weil die schnell wechselnden Koalitionsregierungen in Ankara nicht die Kraft hatten, eigene Visionen zu entfalten. Das änderte sich, seit Erdogans AKP Ende 2002 die Alleinregierung antrat. Insbesondere unter dem derzeitigen Außenminister Ahmet Davutoglu tritt die Türkei wesentlich selbstbewusster auf als noch vor wenigen Jahren. Die Türkei weiß, dass sie etwas aus ihrer geopolitisch strategischen Lage machen kann, wenn sie innenpolitisch stabil und wirtschaftlich stark ist. Dieses Verständnis zeigt sich in der Vermittlung israelisch-syrischer Friedensgespräche, in türkischen Bemühungen um einen Ausgleich zwischen Afghanistan und Pakistan, in einer Annäherungspolitik mit allen Nachbarn, darunter Syrien, Irak, Iran, aber auch Armenien. Es zeigt sich auch in der Energiepolitik, wo die Türkei als Transitland sowohl das europäische Gaspipeline-Projekt Nabucco als auch die russische Konkurrenzveranstaltung South Stream unterstützt. Früher als Hungerleider bekannt, ist die Türkei heute Mitglied der G-20, der Gruppe der 20 größen Volkswirtschaften der Welt. Wichtiger wird die Türkei dadurch für Deutschland und andere europäische Staaten auf jeden Fall. Einfacher im Umgang wird sie nicht. Insofern ist Erdogans rauher Umgangston nicht nur eine persönliche Eigenheit des türkischen Premiers, sondern auch Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins. Die türkische Regierung fühlt sich mittlerweile stark genug, um zu sagen, was sie sagen will – und wie sie es sagen will. Das wird auch Merkel erleben.

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