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Meinung: Merkels neue Mitte

Die Abkehr von der beaufsichtigten Gesellschaft braucht selbstbewusste Mittelschichten

Erinnert sich noch jemand? Vor knapp sieben Jahren siegte nicht nur ein rot-grünes Projekt der gesellschaftlichen Liberalisierung und ökologischen Modernisierung, das den gemeinsamen Auftrag der 68er-Bewegung und der Neuen Sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre politisch erfüllen wollte. Im Herbst 1998 siegten auch, ebenso wie vier Jahre später, ein Gerhard Schröder und eine SPD, die erfolgreich an die „Neue Mitte“ der deutschen Gesellschaft appelliert hatten. Die Sozialdemokraten warben, in manchem dem britischen Vorbild folgend, um die aufstrebenden Mittelschichten einer dynamischen Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, um die neuen Funktionseliten der Arbeitnehmer, um das Bündnis von IT-Ingenieuren, Grafikdesignern und Pädagogen. Der grüne Koalitionspartner, bald darauf ja als neue Partei der Besserverdienenden bespöttelt, war in diesen Kreisen ohnehin schon angekommen. Mit diesem programmatischen Begriff sollten Wählerstimmen gewonnen werden, die zuvor der Kohl’schen Mitte zugeneigt hatten. Aber es ging um mehr – um den Beweis, dass hart arbeitende und nicht schlecht verdienende Menschen jüngeren und mittleren Alters für progressive Politik zu gewinnen wären, und mehr noch: zu gewinnen wären für das Projekt einer engagierten, verantwortungsvollen Gesellschaft jenseits bequem gepflegter Eigeninteressen.

Die Erinnerung daran ist mehr als verblasst, ist ausradiert. Über die Mitte zu sprechen, gleich ob neu oder alt, lohnt nicht mehr, weil es eine solche Mitte angesichts dramatischer sozialer Zuspitzungen überhaupt nicht mehr gibt. Das ist jedenfalls der Eindruck, der sich in öffentlichen Debatten und im kollektiven Bewusstsein der vergangenen Jahre immer mehr verfestigt hat. Wir sind Zeuge eines gewaltigen Erdrutsches in der Selbstbeschreibung der eigenen Gesellschaft geworden. Statt von selbstbewussten Mittelschichten moralisch und ökonomisch geführt zu werden, ist Deutschland, wenn es in den Spiegel schaut, in zwei Extreme zerrissen. Mehr als den Gegensatz von Hartz-IV-Klasse und Heuschreckenklasse scheint es nicht zu geben, dazwischen tut sich vermeintlich gähnende Leere auf. Wer in den letzten Monaten von außen auf das Land geblickt hat, muss den Eindruck gewonnen haben, Bezieher von Arbeitslosengeld II und solche, die es in absehbarer Zeit unausweichlich werden, machten bereits eine satte Mehrheit der Bevölkerung aus. Entsprechend düster ist die Stimmung. Was ist da los? Wir sollten den Blick nicht nur auf mögliche künftige Kabinette richten, sondern erst einmal nach der Gesellschaft fragen, die den nächsten Regierungswechsel möglicherweise hervorbringt.

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Ein Punkt steht ganz ohne Zweifel auf der Habenseite. Seit einigen Jahren haben Öffentlichkeit und Politik in Deutschland aufgehört, die sozialen Zustände zu verkleistern und zu beschönigen. Im Viereck von Arbeitsmarktkrise und Familienkrise, Einwanderung und neuer Massenkultur sind neue Zonen der Marginalität, der Verarmung, der Chancenlosigkeit entstanden – wohlgemerkt: nicht seit Hartz IV, sondern seit mindestens zwei Jahrzehnten. Dafür hat sich der Begriff der „neuen Unterschichten“ eingebürgert, mit vielen Facetten wie der des momentan so aufgeregt diskutierten Unterschichtfernsehens. So erfolgreich war diese Wende der öffentlichen Aufmerksamkeit, dass wir den Diskurs über unsere Gesellschaft mittlerweile radikal auf die neuen Phänomene von Armut und Unterschichten hier, Millioneneinkommen dort umgestellt haben. Inzwischen wünschte man sich den jüngst vorgestellten zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ergänzt durch einen Mittelklassenbericht, der die Aufmerksamkeit wieder auf den weit verbreiteten, ganz normalen Wohlstand der Bundesrepublik lenkt. Die Debatte um Hartz IV hat diese Wahrnehmungsverzerrung auf einen neuen Höhepunkt geführt. In einer Situation, in der alle fest an die Massenverarmung glauben, ist der Regierung nicht einmal eine wirksame Antwort auf den Vorwurf eingefallen, sie betreibe ganz bewusst und absichtsvoll die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten.

Das eigentliche Dilemma, das immer mehr zu einem politischen Grundproblem ersten Ranges wird, entsteht jedoch nicht bei der Diagnose, sondern erst bei der Therapie: bei der Frage nach den Gegenstrategien, nach der politischen und gesellschaftlichen Intervention. Dass man neuen Formen der Armut, zum Beispiel in den vielzitierten „bildungsfernen Schichten“, nicht mit den klassischen Instrumenten der Umverteilung beikommen kann, diese Lektion ist schnell gelernt worden. Es käme vielmehr darauf an, Menschen zu stärken – so klingt denn auch ein neuer Slogan der SPD –, ihnen also möglichst frühzeitig im Leben diejenigen kulturellen Ressourcen mit auf den Weg zu geben, die eine selbständige und verantwortliche Lebensführung im weitesten Sinne ermöglichen: von der Erwerbsfähigkeit bis zur Kompetenz, Kinder zu erziehen oder sich vernünftig zu ernähren. Am Horizont erscheint dann eine solidarische Gemeinschaft mündiger Bürger, die nicht vom Staat versorgt oder betreut werden müssen, sondern den Willen und die Kompetenz zum Aufstieg in die Mitte der Gesellschaft mitbringen.

Doch leider stellt sich dieser Zustand nicht von selber ein. Vielmehr bedarf es anscheinend, und genau das ist das Dilemma, zuvor der Intervention in der Form staatlicher Regulierung, Erziehung und Beaufsichtigung. Inzwischen haben wir so viele Defizite und Problemzonen erkannt, von rauchenden Jugendlichen bis zu erziehungsunfähigen Eltern, dass die Summe der Lösungsvorschläge das Ziel einer freieren und mündigeren Gesellschaft ad absurdum zu führen droht. Die Heilung der Gesellschaft durch neue Formen der Intervention greift denn auch längst über den engeren Bereich der Unterstützungsabhängigen hinaus – auch die Mehrheitsgesellschaft muss sich diese neuen Formen der Betreuung und Erziehung gefallen lassen. Von der Bildungspolitik über den Verbraucherschutz bis zur Gesundheitspolitik ist eigene Verantwortung, die doch allenthalben proklamiert worden war, nicht mehr gefragt. Die Bürger kriegen es alleine nicht mehr hin, deshalb muss erst einmal der Staat für gleiche Bedingungen sorgen. Dann muss die richtige Ernährung für alle vorgeschrieben, das Rauchen für alle verboten und – bizarrer Höhepunkt der Debatte – die Schulpflicht für Dreijährige eingeführt werden. Einst stand Rot-Grün für ein Projekt der Liberalisierung. Fügen wir uns jetzt dem neuen Projekt der beaufsichtigten Gesellschaft? Und führt die rhetorische Selbstverarmung weiter als in eine Sackgasse?

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Es ist eine deutsche Binsenweisheit, dass Wahlen in der Mitte entschieden werden. Damit ist der Kampf um jene pragmatisch-liberale Zwischenzone gemeint, die je nach vorherrschendem Zeitgeist ein bisschen zum Progressiven oder ein wenig zum Konservativen tendiert. Ob es in diesem Sinne überhaupt eine neue konservative Stimmungslage gibt, ist jedoch fraglich. Angela Merkels CDU verheißt nicht jenen Rückzug in ruhigere Gewässer, in den Schatten der deutschen Eiche, den man sich 1982 von Helmut Kohl versprechen konnte. Und einen klar konturierten konservativen Flügel in der Union gibt es nicht mehr – die Konfliktlinien verlaufen inzwischen anders. In einem anderen Sinne jedoch wird die bevorstehende Bundestagswahl sehr klar ein Kampf um die Mitte werden: nämlich ein Kampf um die gesellschaftliche Mitte, die in den Aufbruchjahren von Rot-Grün erfolgreich von Schröder und Fischer umworben werden konnte.

Deshalb ist es eine Illusion zu glauben, die Parteien müssten sich im Wahlkampf darin überbieten, den weniger Privilegierten, den Langzeiterwerbslosen, überhaupt den neuen Unterschichten das beste Angebot zu machen, um am 18. September erfolgreich zu sein. Die wirkliche Dynamik ist eine Dynamik der Mittelschichten, und das haben die Wahlen in Nordrhein-Westfalen eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Während die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Krisenzonen des Landes gerichtet war, auf Behauptung oder Absturz der SPD im Ruhrgebiet, auf die Attraktivität der CDU für die enttäuschten Arbeiter, ist das Land und damit Rot-Grün woanders gekippt: außerhalb des Ruhrgebiets, überhaupt außerhalb der klassischen Großstädte, in den wohlhabenden und wachsenden Speckgürtelkreisen der mittelstädtischen suburbs zumal am Rhein, aber auch in Ostwestfalen. In den Kreisen Neuss und Mettmann westlich und östlich der Landeshauptstadt Düsseldorf oder in den prosperierenden Kreisen Gütersloh und Rhein-Sieg hat dieser Mittelklassen-Swing der CDU überdurchschnittliche Gewinne um die zehn Prozentpunkte beschert. Das ist das eigentliche Signal Nordrhein-Westfalens für die Bundestagswahl.

Eine entscheidende Frage wird also sein, was die großen und die kleinen Parteien diesen im Prinzip wechselbereiten Schichten bieten wollen. Die SPD wird es dabei am schwersten haben. Denn die Stimmungslage ist eher so: Man will das rot-grüne Projekt nicht in Bausch und Bogen verdammen. Aber man hat auch die Nase voll von einer blockierten Gesellschaft, die sich zunehmend als eine traurige Ansammlung von Verlierern stilisiert, statt die nötigen Veränderungen jetzt endlich in Angriff zu nehmen – und zwar aus einer Position der Stärke, nicht des Jammerns und des Flehens um mehr staatliche Bevormundung. Doch wie soll die Müntefering-SPD in den kommenden Wochen noch das Leitbild einer neuen Neuen Mitte regenerieren? Im Prinzip leichter haben es die Grünen als Partei der altruistischen, wirtschaftsfremden Mittelschichten. So ist ihnen der bemerkenswerte Spagat gelungen, mit ihren Wählern im Teich der Gutverdienenden zu fischen und sich zugleich programmatisch als Partei der Schwächeren und sozial Entrechteten zu präsentieren. Das genügt jedoch – auch dafür gibt die NRW-Wahl wichtige Indizien – in Zukunft nicht mehr, um undogmatische jüngere Wählergruppen zu gewinnen, denen die klassischen grünen Sozialisationserfahrungen zwischen Studentenrevolte und Friedensbewegung fehlen.

Ein Selbstläufer wird die Gewinnung der Mittelklassen für die sich gerne bürgerlich nennenden Oppositionsparteien dennoch nicht werden. Schon hat ein vordergründiger Kampf begonnen, der nach ebenso klassischem wie gescheitertem Muster zu unterstellen scheint, derjenige habe die Nase vorn, der die nackten Portemonnaie-Interessen am besten bediene. Es ist notwendig, das Leitbild von Politik in Deutschland wieder stärker an den Mittelschichten auszurichten, an der aktiven, relativ gut gebildeten und gut situierten Mehrheit der Bevölkerung. Aber das heißt noch lange nicht, dass diese Gruppen sich von einer neuen Regierung in erster Linie eine Erleichterung ihres Lebens versprechen. Eine seriöse Steuerpolitik wird gerade für diese sozialen Schichten zum Prüfstein werden, dessen erstes Kriterium lauten müsste: Bleibt uns vom Leib mit billigen Steuersenkungsversprechen! Denn während die Hauptlast der Lohn- und Einkommensteuer auch nach den Steuerreformen von Rot-Grün genau hier getragen wird, ist Staatsverachtung, ist die Geringschätzung öffentlicher Leistungen nicht die vorherrschende Mentalität dieser potenziellen Wechselwähler. Ohnehin geht es um mehr als die günstigste Gehaltsabrechnung – es geht auch um die Suche nach einem diffus gefühlten Lebensentwurf, der an die Stelle desjenigen von Rot-Grün treten könnte.

Die Frage nach der Mitte ist also mehr als die strategische Frage nach Mehrheiten oder nach „der“ nächsten Mehrheit in Deutschland. Sie zielt auf ein Leitbild der Gesellschaft: Soll dieses Leitbild sich an den Rändern der Gesellschaft ausrichten oder in der Mitte verankert sein und von dort ausstrahlen, nach oben wie nach unten? Für die lange vergessenen Mittelschichten ist das eine Chance, aber mehr noch eine Herausforderung, weil sie es sich im Windschatten der öffentlichen Polarisierung sehr bequem gemacht haben. Ihre Verantwortung ist aber noch nicht damit abgegolten, Steuern (hoffentlich) zu zahlen, ihren Körper zu kultivieren und Auto und Vorgarten in Ordnung zu halten. Wenn Deutschland sich nicht aus jener Erstarrung löst, in der eine passive Bevölkerung vom Staat alles erwartet und den Politikern alle Schuld gibt, kann es erfolgreiche Reformen nicht geben. Wenn die Neue Mitte nicht selber zum Akteur einer mündigen Gesellschaft wird, wäre auch mit einem Regierungswechsel wenig gewonnen.

Paul Nolte

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