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Meinung: Militärische Verteidigung: Keine Eintagsfliege

Die Flasche steht offen, der Korken ist spurlos verschwunden, der Geist bleibt draußen. Wie Nuklearwaffen hergestellt werden, weiß die Welt seit über 50 Jahren.

Die Flasche steht offen, der Korken ist spurlos verschwunden, der Geist bleibt draußen. Wie Nuklearwaffen hergestellt werden, weiß die Welt seit über 50 Jahren. Dieses Wissen verschwindet nicht mehr. Die Waffen mag man begrenzen, reduzieren oder gar abschaffen: Das Wissen, wie man sie baut, ist da und jederzeit verfügbar. Einen Weg zurück, in die vornukleare Zeit, gibt es nicht. Das Nuklearzeitalter hat einen Anfang gehabt, aber es wird kein Ende haben. Selbst ohne Bombe leben, heißt mit der Bombe leben. Daran zu erinnern, scheint aus aktuellem Anlass notwendig zu sein.

Wenn heute der neue US-Verteidigungsminister Donald H. Rumsfeld zur Wehrkundetagung nach München kommt, prallen zwei unterschiedliche Wahrnehmungen aufeinander. Im Ton werden beide Seiten konziliant sein, doch in der Sache dominieren die Unterschiede. Aus US-Sicht ist Europa furchtsam und geistig unflexibel. Sicherheitspolitisch verharre der alte Kontinent in der Epoche des Kalten Krieges. Aus europäischer Sicht dagegen spielen die USA mit dem Feuer. Die Installation eines Raketenabwehrschirmes gegen Nuklearraketen (NMD) würde eine Rüstungsspirale in Gang setzen, ohne dass eine reale Bedrohung vorliege. Driftet die so oft beschworene Wertegemeinschaft erneut auseinander? Ist heute NMD, was vor zwanzig Jahren die Mittelstreckenraketen waren?

Durch Europa ging nach dem Fall der Mauer ein lautes Aufatmen. Die Angst vor einem Atomkrieg war gegenstandslos geworden. Das Prinzip der Abschreckung hatte funktioniert. Zwei Lehren hat Europa daraus gezogen. Erstens: Kein Staat bleibt ewig ein Bösewicht. Selbst die Sowjetunion wandelte sich. Irgendwann setzt sich das Gute offenbar durch. Zweitens: Die globale Stabilität wird am besten gewährleistet, indem sich die großen Atommächte weiter gegenseitig in Schach halten. Dann wird weder einer von ihnen misstrauisch noch übermütig.

Auch in den USA war man 1989 erleichtert. Die zwei Lehren, die das Land daraus zog, lauteten allerdings anders. Erstens: Gegen die Sowjetunion hat das atomare Pokerspiel glücklicherweise funktioniert. Doch der Preis dafür war hoch: Wir mussten die eigene Bevölkerung zur Geisel erklären, um ein fremdes Territorium zu beschützen. Von dieser Logik sollten wir wegkommen. Zweitens: Immer mehr Staaten können Nuklearwaffen bauen, immer mehr Staaten können mit deren Einsatz drohen und uns und unsere Verbündeten damit erpressen. Was gestern die Sowjetunion war, könnte morgen der Iran sein. Abschreckung ist gut, Abschreckung plus Verteidigung ist besser.

Im Unterschied zu Reagans SDI werden die NMD-Pläne von fast allen Amerikanern geteilt. Ob und wann NMD funktioniert und installiert werden kann, weiß zwar keiner, aber dass Milliardenbeträge in die Forschung gesteckt werden, findet die Mehrheit richtig. NMD ist keine Eintagsfliege. Kein Protest - ob aus China, Russland oder Europa - wird das Projekt stoppen. Wir sind gut und wollen uns schützen: In dieser einfachen, aber tief verwurzelten Selbstwahrnehmung haben Zweifel keinen Platz.

Beeinflussen allerdings lässt sich Amerika. Darin sollte Europa seine Chance sehen. Und wer weiß - selbst Russland hat womöglich ein Interesse daran, von der neuen Technik zu profitieren. Die USA beim Wort nehmen ist aussichtsreicher, als sie zu bekämpfen: Ihr wollt euch schützen? Okay. Aber wenn ihr wirklich nur gute Absichten damit verfolgt, solltet ihr auch uns schützen. Mal sehen, was Washington antwortet.

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