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Missbrauch: Erschütterte Institutionen

Missbrauch und die Folgen: Die verlogene Rechtfertigung jahrzehntelanger Vertuschung hat sich, paradoxe Gerechtigkeit, schließlich gegen die Institutionen selbst gerichtet: Die Odenwaldschule wird den Vertrauensverlust nicht überstehen. Die katholischen Kirche wird sich entschieden reformieren müssen.

Ein Jahr ist es her, seit der Brief von Pater Klaus Mertes über den Missbrauch am Canisius-Kolleg bekannt geworden ist. Es folgte eine Lawine erschreckender Enthüllungen, darunter die über das Odenwald-Internat. Sie schienen nur neu zu sein. Auch im liberalen Milieu der Reformpädagogik war dem sexuellen Missbrauch die zweite Ungeheuerlichkeit längst gefolgt: die Vertuschung, die den Täter schützt und das schlichte Recht des Kindes missachtet, Gehör bei denen zu finden, denen es anvertraut wurde.

War dieses Jahr nur eines der Aufregung über skandalöse Wahrheiten, auf die erneut Verdrängen und Vergessen folgen? Nein, obwohl absehbar ist, dass der von der Regierung eingerichtete Runde Tisch den Opfern bei der Entschädigung kaum gerecht werden wird. Weit entfernt von Wiedergutmachung sind auch die Gespräche zwischen den Jesuiten-Internaten und der Odenwaldschule mit ihren ehemaligen Schülern. Doch diese Institutionen sind in einer Weise erschüttert, die jenes „Wegschauen“, für das Mertes vor einem Jahr um Entschuldigung gebeten hat, nachhaltig miterschüttern.

Die verlogene Rechtfertigung jahrzehntelanger Vertuschung hat sich, paradoxe Gerechtigkeit, schließlich gegen die Institutionen selbst gerichtet. Die Odenwaldschule wird den Vertrauensverlust nicht überstehen. Die Austritte aus der katholischen Kirche haben 2010 einen Höchststand erreicht, sie liegen dramatisch über denen von 2009. Sie wird sich nach dieser Legitimationskrise entschieden reformieren müssen. Es wird vorstellbar, dass in zehn Jahren die Priesterweihe von Frauen möglich und der Zölibat abgeschafft ist.

Besserer Schutz vor Missbrauch wäre das weniger wegen des Verhältnisses der Kirche zur Sexualität, sondern wegen der Veränderung ihrer abgeschotteten Machtstrukturen. Wer nach den Ursachen fragt, die sexuelle Gewalt in katholischen oder reformpädagogischen Internaten begünstigen, wird Hinweise in einer repressiven Sexualmoral finden und in ihrem Gegenteil, der Libertinage. Gemeinsam ist beiden Institutionen aber eine Macht- und Überlegenheitshermetik, die den Missbrauch ermöglicht, weil sie seine Vertuschung rechtfertigt. Stets war es ja das Ansehen der Institution, dem nicht geschadet werden durfte.

Kindesmissbrauch ist rechtlich und moralisch geächtet wie kein anderes Verbrechen. Und doch ist er bis heute nicht der traurige Einzelfall, sondern ein „allgegenwärtiges soziales Phänomen“, wie der Vater eines (in einer Behinderteneinrichtung) missbrauchten Kindes gesagt hat, als der Runde Tisch Betroffene anhörte. Es beruht auf der Ohnmacht des Opfers gegenüber einer Macht des Täters, der sich auf Schweigekartelle verlassen kann. Telefonate und Briefe Betroffener, die sich nach der Medienkampagne „Das Schweigen brechen“ gemeldet haben, bestätigen, dass Missbrauch im Schutzraum Familie am häufigsten vorkommt.

Eine Lektion ist gelernt: Die unauffällige Versetzung des Priesters oder Schulleiters steht moralisch keinen Deut über dem Verhalten der Mutter, die ihre vom Vater missbrauchte Tochter mit dem Satz zum Schweigen verdammt: „Du wirst doch Schande über uns alle bringen.“ Es waren die mutigen Opfer sexueller Gewalt, die 2010 die unheimliche Macht des Wegschauens gebrochen haben – nicht selten um den Preis, dass alte Wunden wieder aufgebrochen sind.

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