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Meinung: Mit 66 Jahren, da fängt die Arbeit an

Die Alten werden mehr – und müssen mehr für die Gesellschaft tun Von Meinhard Miegel

Im Ausland gilt Deutschland als der kranke Mann Europas. In einer gemeinsamen Reihe von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Autorinnen und Autoren nach Wegen aus der Krise. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 10 auf UKW 89,6.

Bis zum frühen 19. Jahrhundert bildeten nicht mehr arbeitsfähige Alte selbst in einem Land wie Deutschland eine kleine Minderheit, die von der großen Mehrheit Erwerbsfähiger mehr oder minder problemlos mit versorgt werden konnte. Trotzdem trafen alle, die dies konnten, Vorsorge für Wechselfälle des Lebens. Sie zogen Kinder groß, unterhielten ihre Häuser und Gerätschaften und pflegten ihre Felder, kurz: Sie investierten.

Mit der starken Zunahme der Lebenserwartung im 19., insbesondere aber im 20. Jahrhundert reichten diese Investitionen nicht aus. Mit der Herausbildung einer dritten, der so genannten Altenphase, stellte sich die Versorgung dieses Bevölkerungsteils mit einer zuvor nicht gekannten Dringlichkeit.

Jetzt gilt es eine Suppe auszulöffeln, die über zwei Generationen und länger eingebrockt worden ist. Die arbeitsfreie Altenphase ist viel zu lang geworden, zugleich wurde viel zu wenig für diese Phase vorgesorgt, konkret: investiert.

Die Zahl der Alten, die nach der geltenden Rechtsordnung Anspruch darauf hat, von den Jüngeren versorgt zu werden, nimmt lawinenartig zu, während gleichzeitig die Zahl der Jüngeren abnimmt. Lag bei der Schaffung unseres Rentensystems das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern bei drei zu eins, so wird binnen einer Generation jeder Beitragszahler annähernd einen Rentner schultern müssen. Was ist zu tun?

Die Antwort ist offensichtlich, doch fällt ihre Umsetzung schwer. Eine Bevölkerung, die in naher Zukunft fast geschlossen das 80., in starken Divisionen das 90. und in beachtlichen Zahlen das 100. Lebensjahr erreicht, eine Bevölkerung, in der mittlerweile 70-Jährige annähernd die gleichen physischen und psychischen Befunde aufweisen wie 60-Jährige vor zwanzig Jahren, eine solche Bevölkerung kann nicht erwarten, ungefähr ab 60 für die Dauer von zwei bis drei Jahrzehnten von den Jüngeren lebensstandardsichernd versorgt zu werden.

Gibt es genügend Beschäftigungsmöglichkeiten gerade für ältere Menschen? Wenn dies gewollt ist: ja. Vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Erwerbsarbeit in eine immer kürzere Lebensphase gepresst worden. Das war, wie sich inzwischen zeigt, ein Fehler. Jüngere Menschen sollten mehr arbeitsfreie Zeit haben, unter anderem um sich intensiver um ihre Kinder kümmern zu können. Ältere Menschen sollten hingegen über einen längeren Zeitraum aus dem Erwerbsleben ausgleiten – von der Vollzeit über die Teilzeit bis zur geringfügigen Tätigkeit, die heute auch noch viele 70-Jährige ausüben können.

Noch sind Wirtschaft und Gesellschaft auf solche Lebensmuster nicht vorbereitet. Das aber muss sich ändern – es sei denn, die Erwerbstätigen sind bereit, künftig 40 Prozent und mehr ihrer Einkommen ausschließlich für Zwecke der Alterssicherung aufzuwenden. Die Gesellschaft muss verinnerlichen, dass sich die individuelle Lebenserwartung jedes Jahr um durchschnittlich sieben Wochen verlängert und deshalb 60-, 70- und selbst 80-Jährige keine randständigen Minderheiten mehr darstellen. Vielmehr sind sie tragender Bestandteil dieser Gesellschaft, was allerdings auch heißt, dass sie nach Kräften zu deren Wertschöpfung beizutragen haben.

Der Autor leitet das Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft.

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