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Meinung: Mit dem Zug nach Hamburg? Da laufe ich lieber

Von Roger Boyes, The Times

Keine Frage, der romantischste Satz des Jahres lautet: ich schmeckte das Gift auf seinen Lippen. Das sagte die Frau des ukrainischen Oppositionsführers Viktor Juschtschenko, die ihn küsste, nachdem er die mit Dioxin versetzte Suppe gegessen hatte. Mich würde es interessieren, ob sie ihn auch geküsst hätte, wenn er einen mit Maggi versetzten Gemüseeintopf verspeist hätte – zubereitet von der Deutschen Bahn. Dann wäre sie ein tapfere Frau.

MitropaEssen war schon immer schlecht, aber wenigstens umwehte es ein Hauch von Abenteuer; „schlecht“ kann „interessant“ bedeuten, wenn man etwas nur einmal isst, und dann mit hoher Geschwindigkeit. Probleme entstehen erst bei Wiederholung, wie die Made und die Känguruhoden essende Desirée Nick im RTL-Dschungelcamp feststellen konnten.

Zunehmend gleichen Fahrten mit der Deutschen Bahn einer Ekel-Realityshow: Wütende ICE-Passagiere kamen in einem der ersten Hochgeschwindigkeitszüge von Hamburg nach Berlin erst mit 70-minütiger Verspätung an. Jeder ICE, den ich nehme, scheint mysteriöse Stopps zu machen: Vor kurzem standen wir für eine Stunde wegen eines „herrenlosen Koffers“ (muss jeder Koffer einen Herren haben?). Laut Deutscher Bahn verspäten sich Züge – abgesehen von Laub, Staub, Hitze und Eis – durch 1000 Selbstmorde jedes Jahr. Sie sagt nicht, wie viele Selbstmorde dadurch verhindert werden, dass sich Züge verspäten. In einem Regionalzug von Bielefeld nach Köln vor einigen Tagen waren die Toiletten abgesperrt. Der Zug musste außerplanmäßig für 20 Minuten anhalten, damit die Reisenden die Bahnhofstoiletten (Kostenpunkt: 50 Cent pro Besucher) benutzen konnten. Wegen der so entstandenen Verspätung musste die Bahn noch für die Taxifahrten nach Hause aufkommen. Warum waren die Toiletten zugesperrt? Um Geld zu sparen.

Hartmut Mehdorn liefert noch immer nicht die Antwort auf die Frage, warum die Leute Züge nehmen sollen – und nicht Autos oder Billigflieger. Sicher, auch die haben Verspätungen, aber sie sind nicht vollgepropft mit brüllenden Fußballfans. Oder (schlimmster Fall!) sonntagabends mit Bundeswehrsoldaten, laut, undiszipliniert, rülpsend. Warum warten die mit der Folter nicht, bis sie wieder in ihren Kasernen sind?

Die Bahn könnte natürlich noch schlimmer sein. Sie könnte so sein wie die britische Eisenbahn. Je näher Börsengang und Privatisierung der Bahn rückt, desto schlechter wird sie. Einsparung bedeutet weniger Komfort und weniger Sicherheit. Das ist die britische Lehre.

Die lange Wartezeit vor dem Ticketschalter am Bahnhof Zoo lässt den Berlinern viel Zeit, die Weihnachtsgeschenkangebote der Bahn zu studieren: Eine Spielzeugpfeife, um den Fahrer aufzuwecken; eine Dampflok, die damals wahrscheinlich genauso schnell war wie die modernen Loks heute; ein Gutschein für eine Reise nach nirgendwo. Weihnachtsgeschenke an Verwandte und Kollegen, sagen Psychotherapeuten, können Ausdruck von passiver Aggression sein. Sie verstehen schon: Wenn man zum Beispiel Teenagern Deodorants schenkt oder schüchternen Mädchen sexy Klamotten. Die Bahnvorschläge fallen unter diese Kategorie. Eine Freifahrt nach Hamburg? Da laufe ich lieber.

Ich wünsche allen meinen Mitreisenden frohe Weihnachten – und eine pünktliche Ankunft im neuen Jahr.

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