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Meinung: Mit Kraft aus der Krankheit

Der türkische Premier ist siech, das macht die EU-Freunde stark

Von Christoph von Marschall

Die Türkei als der kranke Mann am Bosporus – das Bild hat sich seit Bismarck eingebürgert. In diesen Wochen rückt ihre internationale Stärke ins Blickfeld, ihre strategische Bedeutung auch für Europa. Ankara führt die Afghanistan-Friedenstruppe und hat eine Schlüsselrolle bei Amerikas Irak-Plänen – also Anspruch auf Mitsprache, vielleicht mehr als viele EU-Staaten. In der Debatte über das Verhältnis des Westens zum Islam tritt die Vorbildfunktion der Türkei hervor: als einziger moslemischer Staat mit einem säkularen, weitgehend demokratischen System. Natürlich, diese Begründungen für das Langzeitprojekt EU-Integration der Türkei gab es schon früher. Doch stärker als alle Hoffnung war bisher stets die Skepsis, ob dieser Staat zu der Modernisierung fähig sei, ohne die der EU-Beitritt eine Utopie bleibt.

Nun will es die Ironie, dass ein alter kranker Mann – nein, nicht am Bosporus, die Hauptstadt ist ja längst Ankara – dem EU-Vorhaben neue Kraft schenkt. Das Entsetzen über die monatelange Agonie des Regierungschefs Bülent Ecevit und die öffentlich sichtbare Lähmung der Politik hat die Türkei so stark verändert, wie wenige Ereignisse zuvor. Am Ende war die türkische Politik sogar bereit, Abstriche an der sonst üblichen Sommerpause von Juli bis Oktober zu machen. In den Ferien kam es zur Palastrevolution gegen Ecevit. Binnen Tagen traten sechs Minister zurück, Dutzende Abgeordnete verließen seine Fraktion. Ein ganz neues Lager entsteht: das der bekennenden EU-Verfechter aus ganz verschiedenen Parteien. Eine Reform-Troika aus Außenminister Cem, Wirtschaftsminister Dervis und Ecevits früherem Kronprinzen Özkan, einem guten Organisator, reißt viele Bürger aus der Resignation, es werde sich ja doch nichts ändern. Mesut Yilmaz dirigiert die Mutterlandpartei in die gleiche Richtung.

Das Parlament hat sich zu einer Sondersitzung versammelt und vorgezogene Neuwahlen am 3. November beschlossen. Es ist danach auch nicht wieder in Ferien gefahren, sondern hat in einem Kraftakt ein Reformpaket (in Teilen) verabschiedet, das zuvor monatelang liegen geblieben war – aus Rücksicht auf die Nationalisten in der Koalition. Diese Reformen sind die Bedingung dafür, dass die EU beim Gipfel in Kopenhagen Anfang Dezember ein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen nennt. Die Todesstrafe wird (bis auf Kriegszeiten) abgeschafft; angesichts der Emotionen, die der Prozess gegen den Chef der kurdischen PKK, Abdullah Öcalan, ausgelöst hatte, ein großer Schritt für die Gesellschaft. Über andere EU-Forderungen – Sprachrechte für die Kurden in Radio und Fernsehen, mehr Meinungsfreiheit, Liberalisierung des Demonstrationsrechts – stritt das Parlament gestern noch; größere Bevölkerungsgruppen empfinden sie als Zumutung. Aber sie sind kein Tabu mehr.

Jetzt kommt es darauf an, den plötzlichen Wandel zu verstetigen. Die Modernisierung der Türkei zur EU-Reife ist keine Aufgabe, die sich in zwei, drei Jahren bewältigen lässt. Es geht auch nicht ohne ein klares Votum der Gesellschaft. Die nahen Wahlen können zu einem Plebiszit über den EU-Kurs werden – und den Umbau des Parteienspektrums pro Europa beschleunigen. Bisher war es geprägt von der Polarisierung zwischen den islamischen Parteien und den Kemalisten (samt Militär), die den säkularen Staat so autoritär gegen moslemische Traditionen verteidigten, dass dies unvereinbar mit europäischen Werten war. Die neue islamische AK-Partei unter Erdogan befürwortet den EU-Kurs, sie hofft von der Liberalisierung zu profitieren. Und hat Chancen, stärkste Partei zu werden. Gemeinsam mit den Reformern unter Cem/Dervis/Özkan ergäbe das eine klare Mehrheit gegen die Blockierer. Tradition und Moderne wären nicht mehr Gegensätze.

Zweitens müssen Brüssel und Ankara mehr Geduld miteinander haben, dürfen sich nicht wieder zu schnell zu viel abverlangen. Die EU soll die Reformen schon durch fortschreitende Einbeziehung der Türkei belohnen, aber sie kann das nur in dem Maße tun, in dem es Fortschritt gibt – nicht auf dem Papier, sondern real. Dann könnte die Krankenakte vom Bosporus ganz unmedizinisch mit gleichzeitiger Genesung und Verjüngung enden. Mal sehen, ob wir’s erleben.

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