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Meinung: Mit Lebenslügen ist schlecht leben

Keine Wahrheit ist so schlimm wie ihr Verschweigen

Das Vorwort zu einer Ostberliner Doktorarbeit aus dem Jahr 1977 – erst 1983 im damaligen Westen veröffentlicht – beginnt mit dem Satz: „Unsere Vergangenheit muss uns rücklings einholen, wenn wir sie nicht zurückholen und eigens vor uns bringen.“ Dass der vormalige Wiederstedter Pfarrer, der spätere Theologieprofessor und Politiker Richard Schröder, diese Feststellung damals durchaus auch politisch subversiv gemeint hatte, geht schon aus dem nächsten Satz hervor: „Wir werden orientiert, wenn nicht wir uns orientieren.“ Mit wenigen Worten wurde hier ein existenzieller Sachverhalt skizziert, der das politische wie das persönliche Leben eines jeden angeht: Der aufrechte Gang eines Menschen hängt ab von der Aufrichtigkeit, mit der er seinem bisherigem Leben, seinem Vorleben gegenübertritt. Schon der Begriff Vorleben deutet ja die Neigung an, einen früheren Teil der eigenen Existenz abzukapseln und gewissermaßen von der heute geltenden Identität (oder auch nur dem vorgezeigten Image) abzuklemmen. Doch dieses Vorleben droht, uns rücklings einzuholen. Und selbst wenn es nur bei dieser Drohung bleibt, leben wir geduckt in ihrem Schatten – es sei denn, wir entkräfteten sie beizeiten durch die Wahrheit.

Am fatalsten wirkt eine solche unbearbeitete Drohung aus dem Vorleben, wenn sie dazu führt, dass der von ihr Betroffene – in einer Form des verkrochen umgeleiteten Waschzwanges – anderen das Ausbleiben just dessen vorhält, was er sich selber schuldig geblieben ist: den aufrichtigen Umgang mit der eigenen Vergangenheit. Dann findet nämlich eine Art von nur noch schwer beherrschbarer Schuldverschiebung statt: Nicht mehr das ursprüngliche, lang zurückliegende Vorleben wird nun zum Vorwurf, sondern die bis in die Gegenwart weiterreichende Selbstgerechtigkeit; und die hat es ja gerade an sich, dass ihr genau das eine fehlt – die wirkliche Gerechtigkeit sich selbst gegenüber. Und so holt uns nicht nur unsere Vergangenheit rücklings ein, sondern auch unsere Gegenwart.

Bevor sich nun jemand einredet, dies sei nur das Problem des einen oder anderen aus der literarischen oder politischen Prominenz, prüfe er sich selber. Wer von uns könnte wirklich sagen, er sei mit seinem Vorleben (oder gar mit seinem gegenwärtigen Leben) vollständig im Reinen? Vielleicht verdanken wir es ja nur der Unauffälligkeit unserer gesellschaftlichen Stellung, dass unsere bedenklichen Seiten keine große Wirkung oder Aufmerksamkeit gefunden haben? Auch in der öffentlichen Kritik an den gestrauchelten Selbstgerechten gibt es zuweilen einen Überschuss an Selbstgerechtigkeit, ja auch eine mediale Industrie der ritualisierten Empörung, die von irgendeinem Punkt an nicht minder hohl klingt als die weinerliche Selbstrechtfertigung des Ertappten.

In der sonst ja so gerne zitierten Bergpredigt findet sich die Mahnung „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Damit ist ja beileibe nicht gemeint, dass Fehler übersehen oder nachgerade verschwiegen werden sollten. Vielmehr wird damit eine doppelte Unterscheidung eingefordert. Es ist nämlich zum einen zu unterscheiden zwischen dem Fehler und der Person dessen, der ihn beging, also zwischen dem Versagen und dem Versager. Zum andern ist zu unterscheiden zwischen der sachlichen Feststellung des Versagens und lustvollen Rolle des Richtens darüber. Jeder Mensch ist angewiesen auf die Chance, über sein Versagen hinauszuwachsen. Dazu müsste er es gewiss eigens vor sich bringen – aber andere müssen es auch zulassen, dass er sich davon löst. Wer dessen nicht bedarf, werfe den ersten Stein. Wetten, dass dann keiner mehr fliegt?

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