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Meinung: Mitfühlender Kapitalismus

Von Jacob Heilbrunn Es war einer der beliebtesten politischen Sprüche der 90er Jahre in den USA: „Ich fühle Deinen Schmerz!“ Er sollte zeigen, dass man besorgt ist um den anderen, dass man mit ihm leidet – auch wenn das vielleicht geheuchelt war.

Von Jacob Heilbrunn

Es war einer der beliebtesten politischen Sprüche der 90er Jahre in den USA: „Ich fühle Deinen Schmerz!“ Er sollte zeigen, dass man besorgt ist um den anderen, dass man mit ihm leidet – auch wenn das vielleicht geheuchelt war.

Die ersten Monate des neuen Jahrhunderts haben einen ganz neuen Schmerz (neben den traditionellen Unglücksfällen vom Sportunfall bis zum Verlust Angehöriger) in den Vordergrund gerückt: die massenhafte Betroffenheit von wirtschaftlichen Katastrophen. In Deutschland sehen sich Hunderttausende Kleinanleger als Opfer von Ron Sommers Telekom-Politik – und in den USA Millionen als Opfer von Bilanzfälschungen, die ihnen die Altersversorgung rauben. Ein wütendes Publikum in Amerika fühlt den gleichen Schmerz, der auch durch Europa geht. Die Boom-Jahre sind vorbei, das Triumphgeheul des Kapitalismus erscheint heute so anachronistisch wie 1989 das des Kommunismus.

Diese Misere könnte sich jedoch noch zur Tragödie steigern – falls Europa auf die Idee käme, das amerikanische Wirtschaftsmodell verantwortlich zu machen für den Kollaps an den Börsen. Es ist schon richtig: Amerikanische Politiker hatten dieses Modell glorifiziert, genauso wie sie ein Jahrzehnt zuvor gepredigt hatten, Japan und Deutschland seien die besten Modelle für ökonomischen Erfolg. Aber ihre Jünger in Europa, auch in Deutschland, hatten ihre Lobgesänge bereitwillig übernommen. Es ist deshalb etwas scheinheilig und allenfalls emotional befriedigend, wenn der „Spiegel“ jetzt die Schuld dem amerikanischen „Raubtier-Kapitalismus" gibt.

Die Wahrheit ist: Amerika und Europa haben jeweils die schlechtesten Angewohnheiten des Partners von der anderen Atlantik-Seite übernommen. In Europa sind die Telekom-AGs dem Imperialisten-Virus verfallen. Besessen von der alten amerikanischen Idee „Je größer, um so besser“ haben sie versucht, Großkonzerne zu bauen.

In den USA war es umgekehrt. Größe war nicht das Problem, niemand hat dort solche Schuldenberge (im Vergleich zum Eigenkapital) aufgetürmt wie Herr Sommer und Konsorten. Amerikas Manager kopierten die zynische europäische Neigung zur persönlichen Korruption. Es ging ihnen weniger darum, ihre Betriebe reicher zu machen, sondern sich persönlich zu bereichern. Das Publikum wurde angesteckt von der Euphorie über steigende Kurse. In diesem Rausch fragten zu wenige, ob die reale Produktion oder Dienstleistung eines Betriebs die Bewertung überhaupt rechtfertigt. Hauptsache, man konnte angebliche Profite oder Traum-Entwicklungschancen vorweisen. Skeptiker galten als Spielverderber, die der Zeit hinterherlaufen.

Nun sind Amerikaner wie Europäer desillusioniert vom Markt. In den USA wird man nach dieser heilsamen Ernüchterung wieder langsam investieren, sofern das System gründlich reformiert wird. Denn es gab zu viel Kapitalismus ohne Einschränkungen.

In Europa ist es umgekehrt. Die Herren Sommer & Co. litten nicht an zu viel Kapitalismus. Sondern sie waren den Zwängen von Markt und Wettbewerb nicht genügend ausgesetzt. Sie dachten zu lange noch zu sehr in den Kategorien riesiger staatlicher Monopolbetriebe. Solches imperialistisches Denken ist so unzeitgemäß wie die Berliner Mauer.

Europa braucht mehr Mut zum Markt, mehr Mut zum Kapitalismus. Amerika mehr Ehrlichkeit und mehr Kontrolle. Wir teilen den Schmerz, aber nicht die Probleme.

Der Autor ist Leitartikler der „Los Angeles Times“. Foto: privat

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