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Eine Berliner Babyklappe: Diese Klappe ist an der Außenwand eines Krankenhauses im Stadtteil Neukölln angebracht.

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Moderne Familien: Woher man kommt und wohin man gehört

Der Bundestag hätte heute über einen Gesetzentwurf zur vertraulichen Geburt beraten sollen, doch die Debatte wurde vertagt. Eine Entscheidung drängt. Denn jeder Mensch hat das Recht zu wissen, woher er kommt.

Von Anna Sauerbrey

Findelkinder. Nichteheliche Kinder. Leibliche Herkunft. Die Begriffe haben die fahle Gelblichkeit lang gelagerter Archivalien angenommen, und sind doch hochaktuell. Am Sonntag tritt eine Reform des Sorgerechts in Kraft, der Bundestag hätte in dieser Woche über die „vertrauliche Geburt“ debattieren sollen, und der Bundesgerichtshof hat über das Recht eines Mannes entschieden, der mit einer Samenspende einem lesbischen Paar geholfen hatte, ein Kind zu bekommen.

Ideell hat sich die Gesellschaft in weiten Teilen von Fleisch und Blut verabschiedet. Das neue Leitbild ist Woody Allens „Whatever works“. Jedes dritte Kind kommt inzwischen außerhalb einer Ehe zur Welt, in den neuen Ländern mehr als jedes zweite. Biologische Eltern trennen sich und gründen mit anderen Männern und Frauen neue Familien. Lesbische Frauen adoptieren die Kinder ihrer Partnerinnen. Erst im Februar hat das Bundesverfassungsgericht die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare bei der Adoption gestärkt. Und die immer besseren Techniken der künstlichen Reproduktion eröffnen auch immer neue Wege. Die Biologie, so könnte man meinen, ist nur noch die technische Voraussetzung für ansonsten völlig frei wählbare familiäre Beziehungen. „Home is where the heart is“, sagen die Amerikaner.

Warum also die Aufregung um die anonyme Geburt? Babyklappen, in denen Mütter ihre Neugeborenen ablegen können, müssten abgeschafft werden, forderte schon 2009 der Deutsche Ethikrat. Rund 500 Kinder, so schrieben die Experten damals, seien seit Einführung der Klappen im Jahr 1999 „zu Findelkindern mit dauerhaft anonymer Herkunft“ geworden. Gleichzeitig gelte es als unwahrscheinlich, dass tatsächlich Kinderleben gerettet werden. Daher habe das Recht auf die Kenntnis der Herkunft Vorrang. Die Familienministerin trägt dem mit ihrem Gesetzesentwurf zur „vertraulichen Geburt“ nun zumindest in Teilen Rechnung. Bei der vertraulichen Geburt würden die Daten der Mutter zwar erfasst, allerdings für 16 Jahre unter einem Pseudonym geheim gehalten. Erst dann erhält ein Kind Anspruch auf Einsicht.

Der Entwurf ist noch immer umstritten – wie auch die kurzfristige Vertagung der Debatte im Bundestag zeigt. Im Kern allerdings ist er klug und notwendig. Denn bei aller medizinischen Technisierung und gesellschaftlichen Liberalisierung lässt sich die Biologie nicht abstreifen. Das zeigt sich im Wunsch zahlreicher Adoptivkinder, ihre genetischen Eltern zu kennen. Die psychischen Schäden, die Findel- und Adoptivkinder erleiden, weil sie ihre Herkunft nicht kennen, seien gut belegt, schreibt der Ethikrat.

Aber auch rechtlich könnte man argumentieren. Je mehr Möglichkeiten biologische Eltern haben, über die Zusammensetzung der Familie zu entscheiden, umso mehr muss das Recht der Kinder gestärkt werden, über ihre Ursprünge Bescheid zu wissen. In dem Maße, in dem sich die Bedeutung des Begriffs „Herkunft“ vervielfältigt, gewinnt auch das Recht auf das Wissen über diese Herkunft an Bedeutung.

In Reaktion auf immer neue Patchwork-Konstellationen und die Konflikte, die daraus resultieren, haben Gerichte in den letzten Jahren häufig die biologischen Bande gestärkt – wenn auch nicht unbegrenzt, auch der Beziehung von Mutter und „anerkanntem“ Vater wird große Bedeutung eingeräumt. Das Bundesverfassungsgericht interpretiert das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die Unverletzlichkeit der Menschenwürde als Recht einer Person, sich in Beziehung zu anderen zu setzen. In einem Urteil zu heimlichen Vaterschaftstests von 2007 heißt es, das allgemeine Persönlichkeitsrecht schütze „die Möglichkeit, sich als Individuum nicht nur sozial, sondern auch genealogisch in eine Beziehung zu anderen zu setzen“. Das an diesem Sonntag in Kraft tretende Sorgerecht stärkt erneut die Rechte biologischer Vätern, gegen den Willen der Mutter das Sorgerecht für ihre Kinder zu erlangen. Und auch dem Samenspender des lesbischen Paares wurde ein Recht auf die Anerkennung seiner Vaterschaft zuerkannt.

Hinter dem Bedürfnis, die eigene Herkunft, die eigenen Kinder zu kennen, steht vielleicht auch das Bedürfnis, sich der eigenen Zugehörigkeit bewusst zu werden. Wer „Home is where the heart is“ ganz und gar so empfindet, muss das leben können. Doch jene, die sich unvollständig fühlen, brauchen das Recht auf eine Antwort, ein Recht auf jenes biologische Puzzlestück zur Vervollständigung ihrer eigenen Identität.

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