zum Hauptinhalt

Meinung: Modernes Denken (7): Vater Staat ohne Kinder

Wie wird unsere Zukunft aussehen? Welche Chancen, welche Gefahren, welche Antworten gibt es?

Wie wird unsere Zukunft aussehen? Welche Chancen, welche Gefahren, welche Antworten gibt es? In einer gemeinsamen Serie mit DeutschlandRadio Berlin unter dem Titel "Modernes Denken" gehen prominente Autoren diesen Fragen nach. Zu hören sind die Beiträge jeweils am Sonntag um 12 Uhr im DeutschlandRadio Berlin (UKW 89,6).

Jeder Staat und jede Gesellschaft wird daran gemessen, welche Prägungen sie der nachfolgenden Generation gegeben haben. Ein Staat ohne freiheitsfähige Jugend wäre ein Staat ohne Zukunft. Gegenwärtig müssen wir uns in Deutschland - einem der reichsten, aber auch kinderärmsten Länder der Welt - besonders anstrengen, um in unseren Kindern die Kontinuität unserer Lebensformen zu sichern, unserer hohen wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen und politischen Standards.

Der freiheitliche Staat baut auf die elterliche Erziehung, die den Kindern hinreichend Wissen, Selbstbewusstsein, Entscheidungskraft vermitteln soll, um sie auf das Leben in einer freiheitlichen Demokratie, in einer arbeitsteiligen Wirtschaft und in einer Gesellschaft mit hohen technischen und ökonomischen Standards vorzubereiten. Das Grundgesetz stellt deshalb Ehe und Familie unter den "besonderen Schutz der staatlichen Ordnung". Dieser Schutzauftrag ist gegenwärtig jedoch nur teilweise erfüllt. Die Bereitschaft zum Kind und damit zur Familie wird dadurch gefährdet, dass die moderne Industriegesellschaft Erwerbsort und Familienort strikt getrennt hat. Während im vorletzten Jahrhundert die Menschen in landwirtschaftlichen und gewerblichen Betrieben gleichzeitig ihr Einkommen erzielt und die Kinder erzogen haben, auch die erziehende Mutter damit die Möglichkeit hatte, die in der Arbeit liegt - nämlich jemandem zu begegnen, anerkannt zu werden, Einkommen zu erzielen -, stellt heute die räumliche Trennung von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit die jungen Menschen allmorgendlich vor die schroffe Alternative, entweder zu Hause die Kinder zu erziehen oder aber außer Hauses der Berufstätigkeit nachzugehen. Das von der Verfassung unterbreitete Angebot von Berufstätigkeit und Erwerbstätigkeit läuft insoweit leer.

So haben wir den ökonomischen Wert der Erziehungsleistung entwertet. Der wirtschaftliche Wert des Erziehens liegt in dem Anspruch der Eltern, dass ihre Kinder ihnen bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter Beistand leisten. Diese Unterhaltsansprüche regelt gegenwärtig das Familienrecht. Das Recht der öffentlichen Sozialversicherung aber verpflichtet die Kinder vorrangig, die ehemals Erwerbstätigen und nicht ihre eigenen Eltern mit Beiträgen zu finanzieren.

In diesem "Generationenvertrag" sind die Eltern - und in erster Linie die Mütter - aus eigenem Recht kaum berechtigt, weil sie zu diesem Vertrag angeblich nichts "beigetragen" hätten. Die Mütter bekommen keinen Lohn, so dass man auch keinen Beitrag abzweigen könnte; sie haben aber zu dem Generationenvertrag das Wesentlichste beigetragen, nämlich die nächste Generation, ihre Kinder. Deshalb verpflichtet das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber für die Regelung der Rentenversicherung, "jedenfalls sicherzustellen, dass sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringert". Dieses Gebot ist hochaktuell, weil wir vor einem Reformschritt der Rentenversicherung stehen. Darüber hinaus ist der Gesetzgeber verpflichtet, im Arbeitsrecht die Durchlässigkeit von Erwerbstätigkeit und Familientätigkeit zu verbessern, das Steuerrecht familiengerecht zu gestalten und den Kindesunterhalt den modernen Bedürfnissen der Kinder anzupassen, wozu auch moderne Kommunikationstechniken, Kultur- und Sprachfertigkeit, Sport und Ferien gehören.

Viele individuelle Biographien nehmen einen letztlich als unglücklich empfundenen Verlauf, weil die jungen Menschen Jahr für Jahr die sich bietenden Berufschancen wahrnehmen, sie dafür aber den Kinderwunsch aufs nächste Jahr verschieben Wenn daraus endgültiger Verzicht wird, ist die Enttäuschung groß, aber unabänderlich: Den jungen Paaren fehlt das Kind, den älteren Menschen das Enkelkind.

Insbesondere unsere Freiheit vom Staat baut auf die enge Bindung und Hilfe unter den Freiheitsberechtigen. Die Wahrnehmung verantwortlicher Elternschaft erübrigt die staatliche Lebensbegleitung des Kindes. Familiärer Unterhalt erspart öffentliche Sozialhilfe. Private Pflege ersetzt die Dienstleistungen von Seniorenheim und Krankenhaus durch persönliche Zuwendung: Der familiäre Dialog macht eine psychologische und therapeutische Beratung überflüssig. Und keiner sollte hoffen, sich im Alter auf einen 1000-Euro-Schein oder eine Aktie stützen zu können; ihm wird es gut gehen, wenn ihn ein Mensch stützt, möglichst einer, der ihm familiär verbunden ist.

Gäbe es die Familien nicht, könnte der Rechtsstaat seine Freiheitlichkeit nicht bewahren, der Sozialstaat würde in seiner Leistungskraft überfordert. Die Generation unserer Kinder kann nur die Kultur entfalten, deren Wurzeln in der Generation der Eltern gelegt und von diesen weitergegeben worden ist. Das Kind verkörpert Erneuerungsfähigkeit und Zukunftshoffnung; Kinderlosigkeit steht für Resignation und kollektive Selbstaufgabe. Dies zu sagen, ist nicht charmant, vielleicht sogar rücksichtslos gegenüber denen, die aus guten persönlichen Gründen keine Kinder wollen oder keine Kinder haben können. Das Dilemma unserer Gesellschaft ist aber so dramatisch, dass die ideelle und materielle Verarmung unseres Gemeinwesens durch wachsende Kinderlosigkeit nicht verschwiegen werden darf.

Paul Kirchhof

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false