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Eine SMS geht eindeutig schneller.

© dpa

Mon BERLIN: Briefe meiner Großväter von der Front

Wir werden mit Wörtern und Bildern vom Krieg vollgestopft. Die sozialen Netzwerke liefern ständig nach. Jeder mit einem Handy Bewaffnete kann das Entsetzen sichtbar machen, das Geschehen dokumentieren. Früher schrieb man Briefe. Die Empfänger trugen einige davon wie einen Talisman, nahe am Körper.

Wenn ich in diesen Tagen des Gedenkens an den Ersten Weltkrieg noch einmal die Feldpostbriefe meiner beiden Großväter lese, frage ich mich, wie der „Große Krieg“ wohl ausgesehen hätte, wenn es damals schon Handys, SMS, Selfies und soziale Netzwerke gegeben hätte. Heute springen die Kriegsbilder in Echtzeit ins Netz. Jeder wird zum Kriegsberichterstatter. Es genügt, sein iPhone hochzuhalten, massenhaft Bilder einzufangen und sie vom anderen Ende der Welt direkt zu uns zu schicken.

Während wir es uns auf dem Sofa oder in unserem Lieblingscafé gemütlich machen, können wir das Schauspiel der Bombardierung von Homs digital verfolgen: das Trommelfeuer, mit dem die Truppen von Baschar al Assad die Stadt überziehen; der aus den Gebäuden aufsteigende Rauch, die Feuerstöße, das panische Schreien in der Ferne, der Ruf des Muezzin, eine Stimme aus dem Off, die in arabischer Sprache hektisch das Geschehen beschreibt. Die Opposition macht sich die Kommunikationskanäle zunutze. Im Internet verbreitet sie ihre Bilder.

 Pascale Hugues schreibt für das französische Magazin "Le Point".
Pascale Hugues schreibt für das französische Magazin "Le Point".

© Tsp

In der Zeit meiner Großväter wurde die Verbindung zwischen den Schlachtfeldern und der Familie zu Hause ausschließlich über Karten und Briefe der Feldpost aufrechterhalten. Der Feldpostbrief ist so antiquiert. Ein paar Worte drängen sich auf Vorder- und Rückseite zusammen. Eine fremdartige Schrift, die wir nur noch mühsam entziffern können. Das vergilbte Papier, verknittert, weil es monatelang in der Brusttasche des Soldatenmantels gesteckt hatte.

Meine Großväter kämpften nicht für dasselbe Land. Der eine, ein Elsässer, trug am Chemin des Dames im Norden Frankreichs die deutsche Uniform. Der andere stammte aus der Provence und diente in der französischen Uniform am Fort Douamont in Verdun. Der eine schrieb auf Deutsch. Der andere auf Französisch. Aber der Inhalt ihrer Briefe unterscheidet sich nicht.

Sie sind sehr jung, noch nicht verheiratet, nicht einmal verlobt, sie schreiben also an ihre Mütter und ihre Schwestern. In seiner Sprache beschreibt jeder das Gleiche: den Schrecken des nicht enden wollenden Krieges, das ungeduldige Warten auf den Urlaubsschein, den Hunger, der den Bauch zerreißt, die Angst, die Sehnsucht nach der Heimat.

Sie wollen, dass endlich Schluss ist. In einer seiner seltenen Gefühlsäußerungen schreibt mein elsässischer Großvater, dass es doch ganz egal sei, ob Frankreich oder Deutschland siegt, Hauptsache, ich komme ganz schnell nach Hause und kann Dich, meine geliebte Mutter, in die Arme schließen. Und jeder ihrer Briefe schließt mit dem immer gleichen Satz: „Ich bin gesund!“, schreibt der elsässische Großvater. „Je vais bien!“ Es geht mir gut!, schreibt der französische Großvater.

Die Frauen meiner Familie haben mir erzählt, wie sehr sie auf diese Briefe warteten, wie sie am Fenster auf den Briefträger lauerten. Wie sie die Briefe in der Schürzentasche, im Korsett, unter dem Kopfkissen verwahrten. Einen Brief trägt man wie einen Talisman, nahe am Körper. Als könnte diese Intimität zwischen dem Papier und der eigenen Haut den Sohn, den Bruder, den Geliebten im Schützengraben behüten. Nur in winzigen Portionen gab es Neuigkeiten von der Front. Tage und Wochen beängstigendes Schweigen. Und wenn endlich Nachrichten kamen, waren sie schon viele Tage alt. Nie gab es aktuelle Berichte. Zitternd wartete man gleich wieder auf den nächsten Brief. Keine Fotos, manchmal eine Skizze. Was die Männer in der Ferne durchmachten, konnten sich nur besonders Fantasiebegabte vorstellen.

Heute werden wir mit Wörtern und Bildern vom Krieg vollgestopft. Die sozialen Netzwerke liefern ständig nach. Die Konflikte unserer Welt spielen sich nicht mehr im Verborgenen ab. Jeder mit einem Handy Bewaffnete kann das Entsetzen sichtbar machen, das Geschehen dokumentieren.

Unersättlich scheint unsere Gier auf alles, und zwar sofort und bis in die kleinsten Einzelheiten. Aber besteht nicht die Gefahr, dass die Bilder und Nachrichten sich abnutzen? Muss man ihnen nicht misstrauen? Jeden Tag sieht und liest man so viele davon. Sie sind so brutal, so allgegenwärtig, sie sind vielleicht sogar weniger erschütternd als die zögernden und zurückhaltenden Sätze unserer Großväter.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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