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Mon BERLIN: Der James Bond von Grunewald

Ob am Tag oder in der Nacht, bei Schnee, Regen oder Hitze: Vor den meisten Botschaften in Berlins Bezirk Grunewald steht immer ein Polizist. Warum stirbt er nicht vor Langeweile?

Es gibt keinen törichten Beruf, sagt ein französisches Sprichwort. Da bin ich anderer Meinung. Einen der undankbarsten Berufe kann ich zweimal in der Woche auf der Koenigsallee studieren, wenn ich an der Residenz des türkischen Botschafters vorbeifahre. Der Grunewald ist ganz in der Ruhe dieses strahlenden Frühlings versunken. Hundebesitzer beim Gassigehen, Tennisspieler, alte Damen, die zum Friseur oder in die Wiener Conditorei dackeln – dieser Kiez beherbergt wenige Krawallmacher oder andere Elemente, die die öffentliche Ordnung bedrohen könnten. In Grunewald riskiert man eher einen Pudelbiss als terroristische Freiheitsberaubung. Und die einzigen Detonationen, die den bürgerlichen Frieden beeinträchtigen, werden von Rasenmähern verursacht.

Und doch steht jeden Tag ein Polizist Wache auf dem Bürgersteig vor der Residenz. Das ist nun mal so, die Botschaften werden als politisches Hochrisiko klassifiziert, selbst wenn sie im tiefsten Grunewald liegen. Ob es schneit oder ob die Hundstage Berlin betäuben – der Polizist ist immer da. In meinem Wochenablauf ist er zu einem Fixpunkt geworden, zu einer Säule der Stabilität in der unkontrollierten Bewegung der Großstadt. Er geht vor dem Gitterzaun der Villa auf und ab. Bei starkem Regen darf er in einer wie ein Boudoir eingerichteten Telefonzelle Zuflucht suchen: ein Holzstuhl, eine Reihe Kissen (Hertha BSC für den Po, welker beiger Samt für den Rücken), eine Thermosflasche Kaffee und ein elektrisches Heizöfchen.

Der Berliner Polizist muss sich nicht quälen lassen wie der Guard ihrer Gracious Majesty. Der steht wie ein Laternenpfahl vor dem Buckingham Palace, „upholding the tradition of the past“, sagen die Touristenführer. Unter seiner Bärenfellmütze bietet der Guard diesen lächerlichen Anblick, den nur die Engländer als würdig ansehen können. Gott sei Dank hat Deutschland den Geschmack an derartigen Torheiten und patriotischen Spektakeln verloren. Die khakifarbene Jacke, die beige Hose und die Mütze des Berliner Bullen sind leichter zu bewältigen.

Wann immer ich an dem Polizisten von der Koenigsallee vorbeifahre, frage ich mich, wie er seinen Tag herumbringt, wie er es schafft, nicht vor Langeweile zu sterben. Gleichmäßig wie ein Uhrpendel geht er auf dem Trottoir auf und ab. Um ihn herum stampft die Großstadt, der Wachtposten versieht unerschütterlich seinen Dienst. Er lebt gegen den Strom. Während wir alle uns fragen, wie wir die Zeit abbremsen können, die immer schneller rast, schiebt der Wachhabende vor der Botschaft die nicht enden wollenden Minuten vor sich her. Er will Gas geben, er will die Stunde der Erlösung so schnell wie möglich erreichen: das Ende seiner Schicht.

Von Weitem wirkt er wie ein von Tics geplagter Hampelmann: Er reibt sich die Hände, sieht alle zwei Minuten auf die Uhr, wippt von der Ferse auf die Zehenspitze und retour, kaut am Nagel des rechten Ringfingers, faltet gemächlich sein Taschentuch auseinander. An einem Nachmittag, als noch weniger los war als sonst, habe ich ihn sogar dabei überrascht, wie er heimlich an einer Zigarette zog, gleich einem Halbwüchsigen, der auf der Schultoilette beim Rauchen erwischt wird.

Auf der Koenigsallee sieht man nicht viele Fußgänger. Der Polizist grüßt sie unfehlbar mit einem kräftigen „Guten Tag!“. Macht er sich die Nichtigkeit seines Berufs manchmal klar? Hofft er, dass ein kleines Attentat eines Tages seine Aufgabe aufwerten, einen Helden aus ihm machen könnte? Träumt er davon, der James Bond von Grunewald zu werden? Oder beschäftigt er sich mit Prosaischerem? Zählt er, wie viele Schritte er pro Stunde auf dem Bürgersteig zurücklegt? Berechnet er den Abstand zwischen den Gitterstäben der Residenz und dem Rinnstein? Oder inspiziert er die Risse im Straßenbelag?

Zu gern würde ich seine Gedanken lesen können. Es gibt keinen törichten Beruf, es gibt nur törichte Menschen … sagt der zweite Teil des Sprichworts. Vielleicht füllt der Polizist ja einfach die Zeit auf sehr konstruktive Weise. Diese Zeit, die uns allen fehlt. Diese Zeit, deren Verstreichen wir nicht sehen. In Gedanken versinken, nichts tun, das vorüberziehende Leben betrachten … Vielleicht ist der Bulle vom Grunewald ein Philosoph. Und wenn ich wie ein Rennwagen von einem Termin zum nächsten sause, überrasche ich mich manchmal bei dem Gedanken, dass ich ihn beneide.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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