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Mon Berlin: Die Deutschen haben keine Angst mehr

Der arbeitende Deutsche, der entspannte Franzose - falsche Vorurteile, meint Pascale Hugues. Gegenüber Frankreich ist Deutschland selbstsicher und unkompliziert. Zumindest vom Flugzeug aus.

Immer habe ich geglaubt, die Deutschen seien das angstgeschüttelte Volk par excellence. Menschen, die überall Gefahren und Katastrophen sehen. Die Franzosen dagegen: Genießer, frei, unbekümmert, lebensfroh. Ein ganzer Reigen von Redensarten untermauerte diese fest zementierte Idee. Der Deutsche lebt, um zu arbeiten, und der Franzose … der Franzose schlürft seinen Pastis, wenn es Zeit für den Aperitif ist, hält seine Siesta zum einlullenden Gesang der Zikaden und wandert zuversichtlich seinen sonnigen Lebenspfad entlang. So sagen es die Klischees zwischen den Nationen. Und sie haben etwas wunderbar Beruhigendes.

Bis vorige Woche habe ich felsenfest daran geglaubt. Bis zu jenem Abend, den ich in einem alten Haus auf einer abgelegenen Hochebene oberhalb von Nizza verbrachte. Wir zwölf Gäste sitzen an einem langen Tisch. Der Rotwein fließt in Strömen. Die Schüsseln tanzen über den Tisch. Im Kamin knistert das Feuer. So weit ist alles gut. Realität und Fantasie bilden eine Einheit. Wieder einmal wird bewiesen, dass der Franzose zu leben versteht. Meine Kinder wecken mich auf. Mehrere Abende lang haben sie vom Tischende die Unterhaltung belauscht. „Aber Maman, die Franzosen haben ja vor allem Angst!“

In Gedanken lasse ich die Gespräche der letzten Tage Revue passieren. Tatsächlich, die Kinder haben recht. Erster Abend: Finanzkrise, die Vernichtung der Spargroschen. Zweiter Abend: Krankheiten. Beim Weiterreichen der Schüsseln geht es um das Gemüse: mit Chemie vollgestopft, das Fleisch: mit Antibiotika verseucht, den Wein: mit Farbstoffen versetzt. Dritter Abend: Die schleichende Armut bedroht die Mittelschicht und zwingt sie, bei Einbruch der Nacht die Mülltonnen durchzuwühlen, um ihr Überleben zu sichern. Vierter Abend: die Klimakatastrophe. „Seit ein paar Tagen diese Sintflut an der Côte d’Azur, das ist doch nicht normal!“, beklagt sich der Provençal am oberen Ende der Tafel. Er ist Notar im Ruhestand, in die Berge gekommen, um oberhalb der verschmutzten Luftschicht, die die Küste bedeckt, seine Lungen mit Sauerstoff vollzupumpen. Ich weise ihn darauf hin, dass Regen am Anfang November selbst in Südeuropa eine durchaus normale meteorologische Erscheinung ist … Nichts zu machen. Der Notar beschwört den Weltuntergang herauf, während er sich ein Stück von dem Ziegenkäse abschneidet. Vierter Abend: Einbrecher. Oh, da spitzen die Kleinen die Ohren und erfreuen sich an den Berichten von Hausbesitzern, im Ehebett gefesselt und geknebelt, von herausgerissenen Schubladen und aufgebrochenen Schmuckkästchen, von Schäferhunden, die mit einer Betäubungspistole eingeschläfert wurden …

Die Gäste überbieten sich gegenseitig mit grässlichen Erzählungen. Wer dem gerissensten Coup zum Opfer gefallen ist, wer um das meiste Geld erleichtert wurde, dem gebührt die Krone des Abends. Der Notar verwandelt sich in Robin Hood, der Pinienwald von Saint Raphaël in den Sherwood Forest. Weitere Themen: die verwöhnten und schlecht erzogenen Kinder, die vom Aussterben bedrohten Meeresschildkröten, die allsommerlichen Waldbrände. Vor allem aber geht es um diejenigen, die immer willkommen sind, wenn ein fade werdendes Gespräch Pfeffer braucht: die Ausländer. „Wenn Sie nach Marseille fahren“, so warnt mich der Notar fürsorglich, „verriegeln Sie die Wagentüren von innen, kurbeln Sie die Fenster hoch, verstecken Sie Ihre Handtasche unter dem Sitz, und steigen Sie auf keinen Fall aus.“ – „Und hüten Sie sich auch vor den Banden auf den Autobahnparkplätzen und den Verbrechern auf den öffentlichen Toiletten“, fügt seine Frau hinzu, während sie ihrem Mann eine Birne schält. Der singende provenzalische Dialekt verleiht den schrecklichsten Katastrophen noch einen Hauch von Operette.

Nach einer Woche gemeinsamer Mahlzeiten kommt es uns vor, als hätten wir uns durch die Gefahren des Wilden Westens gekämpft. Wir haben im Land der Halsabschneider und der Straßenräuber überlebt. Wir sind weder vergiftet noch beraubt worden. Während das Flugzeug über Schönefeld kreist, betrachte ich die ruhigen Schrebergärten, die friedlichen Seen, die schnurgeraden Autobahnen. Plötzlich erscheint Deutschland mir als ein selbstsicheres und unkompliziertes Land.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke. Pascale Hugues liest am 30. November um 11 Uhr im Cinema Paris in Berlin aus „Marthe und Mathilde“, ihrem Buch über ihre deutsch-französischen Großmütter. Tickets unter 030-86396067.

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