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Meinung: MON BERLIN Die Droge Spargel

Kann man stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein? Nachdem ich 14 Jahre in diesem Land verbracht habe, löst die Frage bei mir inzwischen beunruhigende körperliche Reaktionen aus: Atemnot, Pulsbeschleunigung, rote Flecken im Gesicht, zitternde Knie, Würgen im Hals, vernebeltes Hirn.

Kann man stolz darauf sein, ein Deutscher zu sein? Nachdem ich 14 Jahre in diesem Land verbracht habe, löst die Frage bei mir inzwischen beunruhigende körperliche Reaktionen aus: Atemnot, Pulsbeschleunigung, rote Flecken im Gesicht, zitternde Knie, Würgen im Hals, vernebeltes Hirn. Mit anderen Worten: Ich kann’s nicht mehr hören! Jeder kennt die Litanei der Selbstkasteiung, die dieser Frage unweigerlich folgt: Unser Humor ist tolpatschig, der Wetterbericht zum Heulen, unsere Gesellschaft kinderfeindlich, et cetera. Und überhaupt, wie soll man stolz sein auf die zweifelhafte Leistung, in diesem oder jenem Land geboren zu sein? Die Selbstverleugnung kennt keine Grenzen, die Deutschen haben sich ihre patriotischen Gefühle auf ewig wegkastriert.

Jedenfalls dachte ich das immer. Bis ich letzten Samstag über den Markt schlenderte. Aus der dichten Menschenmenge drang plötzlich eine laute Stimme an mein Ohr, selbstsicher, ohne die Spur eines Zweifels: „Auf keinen Fall Ausländische nehmen! Die Deutschen sind die besten, bessere gibt’s auf der ganzen Welt nicht.“ Die Italienischen sind zu süßlich, die Französischen haben keinen Geschmack, die Holländischen verdienen nicht einmal eine Erwähnung. All jene mythischen Nachbarn, auf die die Deutschen sonst ihren Glauben an das Anders sein projizieren, ihre Vorstellungen von gutem Geschmack und savoir vivre – alles wie weggefegt an diesem Samstagmorgen um zehn Uhr vor der Matthias-Kirche. Ich traue meinen Ohren nicht. Wovon redet dieser Mensch? Wer könnte mit einem Handstreich alle Minderwertigkeitskomplexe dieser Nation in Rauch aufgehen lassen, welches sublime Wesen? Welche Kreatur verfügt über eine solche Gabe der Absolution? Vorsichtig nähere ich mich der Stimme.

Aus einer Holzkiste ragen die zarten weißen Köpfe des ersten Beelitzer Spargels hervor. Ein Markthändler in Birkenstock-Sandalen und Naturwollsocken hält eine feurige Predigt über die auf der Zunge zergehende Magie seiner Spargelstangen, seiner kleinen Zöglinge aus dem märkischen Sandboden. Leidenschaftlich beschwört er die kilometerlangen Beete und das gute Wasser Berlins, preist die gesunden Bitterstoffe, die den fleischigen Stämmen entspringen. Dann lässt er eine Kaskade phallischer Witze sprudeln, die die komplette Warteschlange zum Erröten bringt. Wir warten, bis wir an der Reihe sind, den Korb in der Hand. Und als der Spargelmann beiläufig erwähnt, dass „der liebe Gott die Frau zum Schälen erschaffen hat“, überläuft ein Schauer emanzipierter Empörung unsere kleine Gesellschaft.

Am Folgetag werde ich auf dem Pariser Platz Zeuge einer merkwürdigen Prozession. Eine Spargel-Pyramide, sorgsam auf einen Handkarren gestapelt, passiert würdevoll das Brandenburger Tor, umkreist zeremoniell den gesamten Platz und kommt vor den Fenstern der französischen Botschaft zum Halten. Kein ausländischer Staatschef könnte effektvoller Unter den Linden auftreten. Die ersten Beelitzer Spargel zeigen sich und lassen sich bewundern.

Lange habe ich versucht, ein französisches Äquivalent für den Beelitzer Spargel zu finden. Aber weder die Cavaillon-Melonen noch die bretonischen Artischocken, schon gar nicht der Beaujolais Nouveau (eine kommerzielle Attrappe, um Ausländer mit billigem Rotwein abzufüllen) markieren so präzise den Übergang von einer Saison zur anderen. Keine Suppe, kein Schnitzel, kein Stück Kochschinken, keine Sauce Hollandaise, die jetzt nicht mit Spargel serviert würde. Den ganzen Mai über steht Berlin unter der Wirkung einer kollektiven Droge.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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