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Mon BERLIN: Die heilige Familie vom Wolfgangsee

Bis jetzt kreisten die knackigen Enthüllungen, die an den sommerlichen Stammtischen ausgetauscht wurden, nur um das Sexleben der Mächtigen. Man befasste sich mit ihren Mätressen, mit ihren flüchtigen Affären, mit ihren Coming-outs.

Bis jetzt kreisten die knackigen Enthüllungen, die an den sommerlichen Stammtischen ausgetauscht wurden, nur um das Sexleben der Mächtigen. Man befasste sich mit ihren Mätressen, mit ihren flüchtigen Affären, mit ihren Coming-outs. Berlusconi, Strauss-Kahn und Schwarzenegger nährten üppige Gespräche.

Mit den Bekenntnissen der Söhne von Helmut Kohl werden jetzt das Familienleben und sein Scheitern ans Tageslicht gehoben. Welch ein Gegensatz – auf der einen Seite die bewunderte Gestalt des öffentlichen Lebens, dominierend in jeder Situation. Helmut Kohl, von Frankreich aus gesehen: der Maestro der deutschen und europäischen Einigung. Ein unangreifbares Monument, das selbst der Skandal der schwarzen Kassen kaum angekratzt hat. Und auf der anderen Seite: der abwesende Familienvater, unfähig zur Empathie, außerstande, seinen Kindern die emotionale Sicherheit zu geben, die sie für ihre Entfaltung brauchten.

Die beiden Söhne haben nun das Wort ergriffen. Bis dahin war es die Aufgabe von Peter und Walter Kohl gewesen, das öffentliche Bild ihres Vaters zu schmücken. Erinnern Sie sich an das biedere, aber solide Gruppenporträt, das die Familie Kohl alljährlich am Wolfgangsee abgab. Zwei stämmige Jungen in kurzen Hosen, eine blonde, ewig lächelnde Mutter, ein Vater mit Sandalen und Socken, der seine Sprösslinge wohlwollend betrachtet. Auf den ersten Blick: harmonische Familienidylle. Der Vater dient seinem Vaterland und beschützt seine Familie. Die Frau stärkt ihrem Gatten den Rücken. Wie eine hübsche Girlande verbinden die Kinder die beiden. Nicht sehr sexy, das Bild, aber ach so beruhigend für den durchschnittlichen Steuerzahler. Dagegen hatte der kleine Kennedy mit Kaschmirbademantel und Lederpantoffeln, der im Oval Office zu Füßen seines so verführerischen Vaters spielte, einen ganz anderen Stil! Und die edlen Kinder Giscard d’Estaings – hinter ihrem Vater in einer Reihe aufgestellt sahen sie aus wie ein lebender Stammbaum. Dabei verfolgt die Inszenierung immer den gleichen Zweck: Die Kinder werden instrumentalisiert, um die politische Karriere des Vaters zu fördern. Seinen Kindern hat es ein nach Macht lechzender Politiker zu verdanken, wenn er als liebevoller und ergebener Vater erscheint, ein Mann, mit dem man sich leicht identifizieren kann. Als die Kohl-Kinder erwachsen waren und das Familiennest verlassen hatten, wurden sie durch einen kleinen Hund, ein Rehlein, eine gutmütige Kuh ersetzt, die der massige Kanzler gerührt streichelte. Und die Herzen der Wähler schmolzen weiter dahin.

Man braucht kein feiner Psychologe zu sein, um zu vermuten, dass diese schöne Fassade in Wahrheit Risse hatte. Walter Kohl hat diese Illusion der Perfektion zerstört. Sein mutiges Buch, weder exhibitionistisch noch peinlich, ist keine vulgäre Abrechnung mit diesem inadäquaten Vater, sondern der bewegende und manchmal ein wenig unbeholfene Versuch, endlich diesen einsamen, von den Erwachsenen im Stich gelassenen kleinen Jungen zu Wort kommen zu lassen. Eines dieser zahlreichen „Kinder von“, die kein Recht auf ein Leben wie alle anderen haben und oft ein tragisches Schicksal durchleiden.

Denn im Gegensatz zu den Kindern der Filmstars profitieren Politikerkinder so gut wie gar nicht vom Glanz des Vaters. Ein Filmschauspieler erfährt rühmende Kritiken, wird ausgezeichnet. Auf den ersten Blick bildet er eine aufwertende Projektionsfläche für Jugendliche aus der ganzen Welt. Ein Mythos, mit dem man im alltäglichen Zusammenleben sicher seine Schwierigkeiten hat, aber doch eine positive Aura. Es ist leichter, der Sohn von Michael Douglas zu sein als der Sohn von Helmut Kohl. Die Politikerväter sind physisch abwesend, ferngesteuert durch ihre mit Verpflichtungen, Meetings, Gipfeltreffen vollgestopfte Agenda. Aber in den Medien sind sie allgegenwärtig. Und ihr Bild, das Fernsehen, Zeitungen und Internet ihren Kindern spiegeln, ist fast immer negativ, besonders in dieser Zeit der politischen Verdrossenheit. Stellen Sie sich vor, wie es der Tochter von Strauss-Kahn in den vergangenen Wochen ergangen ist oder den Kindern von Sarah Palin oder Silvio Berlusconi in den letzten Jahren. Man muss sich in die Haut dieser Kinder versetzen, wie sie ihren Vater, und immer öfter ihre Mutter, nur in Form von gehässigen und verleumderischen Artikeln erleben, die sie jeden Morgen am Frühstückstisch lesen. Weit entfernt von der heiligen Familie am Wolfgangsee.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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