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Mon BERLIN: Die Nacht, als Peggy im Büro übernachtete, eng an ihren Chef geschmiegt

Peggy war eine rührende alte Jungfer mit dicker Hornbrille und Schottenrock. Wenn in London gestreikt wurde, schlief sie vor dem Schreibtisch ihres Chefs.

Peggy habe ich nie vergessen. Wann immer der Streik zuschlägt, muss ich an die Sekretärin eines BBC-Chefs denken, für den ich damals arbeitete. Es ist schon lange her. Ein Streiktag in London. Der Konflikt steckte fest: Vorortzüge, Underground, Doppeldecker – nichts rührte sich mehr. Seit Tagen war die Hauptstadt gelähmt. Und seit Tagen schlief Peggy vor dem Schreibtisch ihres Chefs.

Peggy war eine rührende alte Jungfer mit dicker Hornbrille und Schottenrock. Sie lebte in einem Vorort weit entfernt von der Innenstadt Londons, schon fast auf dem Land. Unmöglich, morgens zur Arbeit zu gelangen. Tagelang sollte sie ohne ihren Chef auskommen! Eine unvorstellbare Perspektive! Peggy hatte eine Idee. Eines schönen Tages erschien sie mit Feldbett und Campingkocher für den Tee. Als die Nacht kam, schlug sie ihr Lager im Büro des Chefs auf. Am nächsten Morgen sahen die Frühankömmlinge Peggy, wie sie durch die Korridore zur Toilette floh. Sie trug einen kleingeblümten, gesteppten Bademantel und rosa Pantoffeln.

Bei der Redaktionskonferenz saß Peggy mit ihrem Notizblock an vorderster Front und erhaschte wie im Flug jedes Wort, das ihrem Chef über die Lippen kam. Nie zuvor hatte ich sie so glücklich gesehen – die Wangen vor Freude gerötet, die Augen glänzend wie nach einer Liebesnacht.

Wir alle wussten, dass Peggy in ihren Chef verliebt war. Wunschtraum eines alten Mädchens. Ein dickes Geheimnis. Und dieser Streik war die Chance ihres Lebens. In ihren Gedanken schlief Peggy an den Chef geschmiegt. Außer dass der Chef am Abend nach Hause gegangen war. Mit seinen Wanderschuhen und seinem Spazierstock hatte er sich zu Fuß in das schicke Viertel auf der anderen Seite der Themse begeben, wo seine Frau ihn zum Abendessen erwartete.

Ich bin sicher, dass die Chefs von Berlin und Paris derzeit von der Hingabe einer Peggy träumen. Aber die Peggys gibt es nicht mehr. Diese Woche habe ich kurz nach der Öffnung der Büros versucht, einen Gesprächspartner in Paris zu erreichen. Niemand da. Als hätte eine böse Fee blitzartig alle Bewohner der französischen Hauptstadt in einen hundertjährigen Schlaf versetzt. Ab 11 Uhr wurden dann die Telefonhörer abgenommen.

Die Sekretärin der Krankenkasse, Abteilung Beitragszahler, war, wie viele andere, zu Fuß zur Arbeit gekommen. Sie, deren Stimme normalerweise ziemlich fade klingt, sprudelte vor Glück. Sie erzählte mir, dass sie flotten Schrittes den Jardin du Luxembourg durchquert und dann in der Straße zum Panthéon einen großen Café Crème getrunken hatte. Bei den Bouquinisten an der Seine hatte sie sich zuvor einen Band Verlaine-Gedichte gekauft. Und nun war sie im Büro angelangt.

Vor meinem inneren Auge verfolgte ich diesen morgendlichen Streifzug. Paris noch ganz verschlafen, der Pont Neuf im Nebel. Zweifellos ist ein Spaziergang über den Hohenzollerndamm und den Fehrbelliner Platz am Morgen von eher relativer Schönheit. Doch kann man einen Schlenker zum Volkspark machen und sich einen Band Brentano in die Manteltasche stecken.

Der Streik erfordert viel kreatives Denken. Man muss sich durchwursteln. Man kommt mit dem Moped, dem Fahrrad, dem Roller. Manche trampen, zum ersten Mal, seit sie der Pubertät entwachsen sind. Die Gesichter strahlen Heiterkeit aus. Man hört lautes Lachen. Plötzlich sprechen die Leute miteinander, sie erzählen sich ihre Abenteuer. Ein Hauch von Freiheit weht über die großen Boulevards. Der Streik erlaubt einen Ausflug jenseits der Routine. Man löckt wider den Stachel.

Ohne schlechtes Gewissen erlaubt man sich eine Übertretung. Schließlich kommen sowieso alle Menschen zu spät! Und schuld daran sind die bockigen Gewerkschafter, die verstockten Arbeitgeber! Endlich darf man in diesen Zeiten der ständigen Überforderung und Überbeanspruchung einmal ein wenig trödeln. Und außerdem erfüllt der Streik die süßesten Träume. Für eine Nacht wird Peggy mit ihrem Chef vereint sein. Und die Sekretärin von der Krankenkasse wird bei einem großen Café Crème Verlaine lesen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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