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Mon BERLIN: Diese Stadt ist kein Snob

Haben Sie gesehen, wie es aus dem Boden geschossen ist? Das neue Bauwerk, weiß, chic, ultramodern, makellos.

Haben Sie gesehen, wie es aus dem Boden geschossen ist? Das neue Bauwerk, weiß, chic, ultramodern, makellos. Es ist direkt aus dem Grau der Grunewaldstraße gewachsen. Da, wo einst die Shell-Tankstelle stand. Ein Palazzo aus hellem Marmor mit Tiefgarage, vergittertem Sicherheitstor und Zugangscode. Fahrstuhl, große Rauchglasfenster, ein Vorplatz mit Blumenbeeten. Welche Pracht! Welch ein Luxus! Es strahlt in der Nacht. Es blendet am Tag. Endlich ein Gebäude, das im raschen Tempo unserer Zeit mithält, ein Gebäude auf der Höhe unserer globalisierten Welt, ein Gebäude, das einem geradezu in die Augen springt und das Niveau der Straße, ja des ganzen Stadtviertels hebt.

Eng aneinandergedrängt stehen wir Schöneberger im Schneeregen auf dem Trottoir, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen weit aufgesperrt.

Dabei fällt mir eine Szene aus Fellinis „Amarcord“ ein, einer der größten Momente der Filmgeschichte. Ganz Rimini hat sich im Hafen auf kleinen Booten versammelt. Plötzlich erscheint aus dem Nebel der Nacht ein geheimnisvoller Ozeandampfer: hell erleuchtet, schimmernd, grandios. Angesichts dieses technischen Wunderwerks des Duce ist ganz Rimini zu Tränen gerührt.

Ebenso ist ganz Schöneberg außer sich angesichts dieses Neuankömmlings im Kiez. Zugegeben, hier endet der Vergleich auch schon. Denn die Grunewaldstraße im Januar hat mit den silbrigen Wassern der Adria an einem Sommerabend nichts gemein. Mit der Schneeschmelze tritt eine Sedimentschicht nach der anderen an die Oberfläche: Kippen, Abfälle, alte Zeitungen, Knaller aus der Silvesternacht, skelettierte Weihnachtsbäume, Hundehaufen von mehreren Wochen. Unglaublich, dass dieses noble Gebäude es für würdig befunden hat, in einem derartigen Sumpfloch zu entstehen!

Neben dem Reisebüro Babylon, der Bäckerei Harmonie und der Ruine eines australischen Pubs logiert nun eine Consulting GmbH: international, erfolgreich, samt Tradition und Corporate Identity! Der Eindringling macht Schluss mit dem, man kann es nicht anders sagen, bescheidenen Auftreten dieser so typischen Berliner Straße. „Unsere Firmenzentrale im Herzen der Hauptstadt!“, brüstet sich der Standort im Internet.

Na ja … Ist unser Schöneberg das Herz Berlins? Sind wir dieses schmeichelhaften Upgradings wirklich würdig? Handelt es sich nicht eher um ein bedauerliches Missverständnis? Verwechselt die GmbH nicht vielmehr den Bayerischen mit dem Potsdamer Platz? In der Grunewaldstraße bröckelt der Putz von den Fassaden der Jahrhundertwende, und die nach dem Krieg eilig hochgezogenen fünfstöckigen Kästen geben sich Mühe, mit einem klatschmohnroten Fries heiter zu wirken. Zu Füßen des neuen Gebäudes lockt der Tan Grill die Berliner, die aus der U-Bahn ans Tageslicht kommen. Je nach Windrichtung profitiert die ganze Straße olfaktorisch vom Angebot der Verkaufsleitung: Currywurst, Curryboulette, Döner mit Zwiebel, dazu Pommes Frites und Salatbeilage sowie wahlweise ein Schuss Weinbrand oder Jägermeister. Unter den verschreckten Augen der Consultants in Anzug und Krawatte drehen sich die Hähnchen auf dem Spieß. Der Postbote macht Mittagspause, sein Fahrrad parkt vor dem Tor.

Können Sie sich eine Frittenbude im Schatten der Türme der Défense in Paris vorstellen? Eine Dönerbude vor dem Sitz der Deutschen Bank in Frankfurt oder einer Wirtschaftsberatung in Düsseldorf? Schon vor dem Einzug hätten die neuen Bewohner für Ordnung auf dem Fußweg gesorgt, um die Umgebung ihrem Rang anzupassen. Aber Berlin, und dafür liebe ich es, hat nichts von einem Möchtegern. Es verabscheut die Snobs und, schlimmer noch, die Emporkömmlinge. Sein Status als Hauptstadt ist ihm nicht zu Kopf gestiegen. Berlin bleibt bodenständig, mit proletarischem Touch. Das, was es veredeln könnte, ist noch nicht geboren! Der Tan Grill ist die wahre Corporate Identity der Grunewaldstraße.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke. Am 7. Februar liest Pascale Hugues um 19 Uhr 30 im Nachbarschaftshaus Friedenau aus ihrem Buch „In den Vorgärten blüht Voltaire“ (Holsteinische Straße 30, Reservierung unter Tel. 85 99 51 16). Der Abend ist eine Benefizveranstaltung zugunsten des Hospizes Schöneberg-Steglitz.

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