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Meinung: MON BERLIN Europäische Laienspielschau

Im Ensemble der europäischen Staatsoberhäupter hat jeder seine angestammte Rolle: Berlusconi gibt den Hampelmann im Mussolinikostüm, Blair den treuen Krieger, Chirac den Matador, dem der Tyrannenmord am arroganten Amerika zufällt. Allein Gerhard Schröder fiel es bislang schwer, eine passende Haut zu finden: Mal gab er den zappligen Kasper, mal den Zigarre rauchenden Dandy.

Im Ensemble der europäischen Staatsoberhäupter hat jeder seine angestammte Rolle: Berlusconi gibt den Hampelmann im Mussolinikostüm, Blair den treuen Krieger, Chirac den Matador, dem der Tyrannenmord am arroganten Amerika zufällt. Allein Gerhard Schröder fiel es bislang schwer, eine passende Haut zu finden: Mal gab er den zappligen Kasper, mal den Zigarre rauchenden Dandy. Nun allerdings fällt ihm dank Agenda 2010 – zumindest in den Augen der Franzosen – eine überaus schmeichelhafte Rolle zu: Gerhard Schröder, deus ex machina, vom Himmel gefallen, um im Handumdrehen ein neues Wohlfahrtskonzept für das alte kranke Europa zusammenzuschustern.

Meine Pariser Redaktion versieht meine Artikel über die deutschen Sozialreformen neuerdings mit elegischen Überschriften. Diese Woche: „Die Agenda 2010: Revolution für die SPD, Provokation für die französische Linke.“ Ein ehemaliger Minister der Regierung Jospin, dessen Position mit „traditionalistisch“ sehr höflich umschrieben ist (sprich: verknöchert und neomarxistisch) warf kürzlich voller Groll dem deutschen Kanzler vor, „die SPD moralisch abzurüsten“. Denn wo Raffarin sich quält und windet und schwitzt, da reüssiert Schröder mit links. Und Frankreichs melodramatisch verklärter Blick richtet sich voll seliger Bewunderung auf diese deutsche Darbietung vollendeter Harmonie.

Der Chor: In Deutschland wurde die bittere Reform-Pille nicht nur von den Sozialdemokraten geschluckt, sondern auch von den Grünen und sogar der Opposition. In Frankreich ist Raffarin unfähig, Konsens für seine Rentenreform zu etablieren.

Die Bösen: Seit Sommeranfang ähnelt Frankreich einem blutigen Schlachtfeld. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Gewerkschaftler kolonnenweise über Pariser Pflaster marschieren. Man wähnt sich im goldenen Zeitalter des Klassenkampfes, auch wenn die zersplitterten Gewerkschaften bisher nichts erreicht haben und die Proteste langsam abflauen. Und in Deutschland? Kein Mensch auf der Straße. Der Streik im Osten – abgebrochen. Die IG Metall, einst Kaderorganisation der europäischen Gewerkschaften, hat unter dem friedfertigen Blick des Bundeskanzlers folgsam den Selbstzerstörungsmodus aktiviert, und Schröder kann sich jetzt zurücklehnen und warten, bis der Weg frei ist.

Das Bühnenbild: Während Raffarin in der Arena der Nationalversammlung den sozialistischen Löwen zum Fraß vorgeworfen wird, inszeniert Gerhard Schröder eine impressionistische Ministerkonferenz, ein hemdsärmliges „Frühstück im Freien“ im Schatten deutscher Eichen.

Das Publikum: Die Franzosen gehen zu Hunderttausenden auf die Straße, um die Gewerkschaften zu unterstützen. Die Deutschen sehen mehrheitlich die Notwendigkeit ein, den Mammut-Sozialstaat zu beschneiden. Sie mögen die Gewerkschaften nicht mehr. Dafür mögen sie Schröder immer lieber.

Epilog: Verkehrte Welt. Man hielt die Deutschen für unbeweglich, verkrustet in einem materiellen Wohlstand. Man hielt die Franzosen für tollkühn, bereit zu jeder Revolution. Jetzt steht Raffarin einsam auf der Bühne und rauft sich die Haare. Vorhang!

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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