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Mon BERLIN: Hans-Christian Ströbele und das Dao der Stadt

Friedrichshain-Kreuzberg ist ein winziger Einzelpunkt auf der schwarz-gelben Landkarte Deutschlands nach der Wahl. Wenigstens einer lebt im Einklang mit seinen Idealen.

Ich sitze im Auto auf dem Potsdamer Platz. Unendlich zieht sich der Stau hin. Der Taxifahrer vor mir flucht und gestikuliert. Hinter mir ist ein Lastwagenfahrer mit halb geschlossenen Augen über seinem Lenkrad zusammengesunken. Er nutzt den erzwungenen Halt für eine kurze Siesta. Auch ich kapituliere vor dieser großen urbanen Panne mitten am Tag und betrachte das Leben, wie es hektisch um mich herumwirbelt: bösartig gelaunte Autofahrer, Klumpen von Fußgängern auf den Trottoirs, eine Baustelle, die die Fahrbahn zu einem Nadelöhr verengt, ein Doppeldecker mit seinen hoch oben aufgereihten Touristen. „Das Leben ist Chaos, und man sollte es genießen!“, rät der Philosoph vom Dienst im Radio. In so einer Situation eher eine Provokation. Blöder Spruch, denke ich.

Mit seinem im Wind flatternden roten Schal hat anscheinend nur Hans-Christian Ströbele auf seinem Fahrrad diese seltsame Maxime zu seinem Lebensmotto gemacht. Wie Moses die Wogen durchquert er in aller Ruhe das Meer der Autos, die Stoßstange an Stoßstange stehen. Gemütlich, heiter radelt er dahin, Richtung Bundestag, die Augen prüfen den grauen Himmel. Niemand auf der Straße erkennt den grünen Helden, der soeben bundesweit das einzige Direktmandat seiner Partei errungen hat. Niemand deutet mit dem Finger auf den absoluten Monarchen einer apfelgrünen Oase mitten in Berlin. Friedrichshain-Kreuzberg ist ein winziger Einzelpunkt auf der schwarz-gelben Landkarte Deutschlands nach der Wahl. Wenigstens einer lebt im Einklang mit seinen Idealen. Radfahren auf dem Potsdamer Platz bei elf Grad Celsius, um zur Arbeit zu kommen – das ist mutig, und vor allem ist es für einen grünen Abgeordneten moralisch wesentlich leichter zu vertreten, als wenn er mit einem dicken Dienstwagen aus Grunewald zum Bundestag gebracht würde. Ja, dieser Mann hat Prinzipien. Und er hält sich daran.

Kreuzberg ist die uneinnehmbare Festung von Hans-Christian Ströbele. Am Heinrichplatz scheint das Alter seit den achtziger Jahren faltenlos vorüberzugehen. Hier geht das Leben weiter wie eh und je. Der Heinrichplatz hat sich vom Fall der Mauer nicht beeindrucken lassen. Er hat es geschafft, sich nicht vom Mahlstrom der Globalisierung mitreißen zu lassen. Immer noch tragen die Cafés die vielsagenden Namen der psychedelischen Reisen. Sie heißen Hanfhaus, Mondlicht und Bâteau ivre. Der Bioladen verkauft immer noch Tofu und Kaffee aus Nicaragua.

Hier werden immer noch hochwertige Autos von den Feinden des triumphierenden Kapitalismus und der aufgeblähten Männlichkeit angezündet. Vorige Woche wurde am Paul-Lincke-Ufer ein verbrannter Mercedes gefunden. Totalschaden, sagt die Zeitung. Erster-Mai-Verhältnisse mitten im Oktober. Für Krawalle ist immer Saison.

Als ich nach Berlin kam, war ich von Kreuzberg fasziniert. Eine alternative Subkultur in dieser fest verwurzelten und weit verbreiteten Form gab es bei uns nicht. Erst in den letzten Jahren konnte die Grüne Partei in Frankreich wirklich Fuß fassen. Die politische Stärke der deutschen Grünen hat sie nicht erreicht. Nur wenige Franzosen demonstrieren gegen die Atomkraftwerke, selbst wenn es sehr beunruhigende kleine Unfälle gibt.

Rund um den Heinrichplatz scheinen sich alle spirituellen Kräfte und transzendentalen Energien zur Rettung der Menschheit versammelt zu haben. Auf diesem großen Basar der Esoterik sind alle Sekten vertreten: Reinkarnation, Systemische Aufstellung, Medialität und Lebensfreude, Tibetan Pulsing Yoga, Rituale, Meditationen, Räucherheilkunde. Chaos soll man lieben … Eine billige Weisheit, die auf dem Heinrichplatz hätte erfunden werden können. Es ist wahr, hier ist das Leben friedlich. Die Menschen haben vermutlich genügend Zeit, um ganze Tage mit der Erforschung noch des letzten Winkels im eigenen Ich zu verbringen.

Nach dem Fall der Mauer wurde Kreuzberg entthront, angesagt sind jetzt Mitte und Prenzlauer Berg, und heute ist Kreuzberg eine Art Reliquie am Rand der neuen Metropole. Vielleicht die blasse Erinnerung an ein Goldenes Zeitalter? Nicht solange Hans-Christian Ströbele mit dem Rad zum Reichstag fährt.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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