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Mon BERLIN: Ick koof bei Lehmann

Berliner Aphorismen müssen schlicht, direkt und etwas dümmlich sein. Dann kann man vor Zärtlichkeit für diese Stadt dahinschmelzen.

Wenn ich morgens das Haus verlasse, kommt es mir manchmal vor, als hätte ich mich in ein dickes Buch voller Aphorismen verirrt.

Zum Beispiel der Fahrstuhl in der Humboldt-Box auf dem Schlossplatz. Vor kurzem brauchte ich vier Minuten, um vom Erdgeschoss zur Terrasse zu gelangen. Da gab es nichts zum Lachen. Es war unmöglich, die Decke anzustarren und an nichts zu denken. Unmöglich, die Mitfahrenden in ein kleines solidarisches Gespräch über den grauen Himmel zu verwickeln. Denn die Kabinenwände waren mit Zitaten tapeziert. Ein paar knappe, schwere Sätze, um dem gemeinsamen Aufstieg Tugend einzuhauchen. Ein Wegweiser für das halbe Dutzend hier eingesperrter verlorener Seelen, die doch von niemandem etwas verlangt hatten. Alexander von Humboldt mahnte: „Der Mensch muss das Gute und Große wollen, das Übrige hängt vom Schicksal ab.“ Und er schärfte uns ein: „Alles, was wir mit Wärme und Enthusiasmus ergreifen, ist eine Art von Liebe.“

Das Schicksal, der Mensch, das Gute, das Große, die Liebe ... welch ein Guss riesenhafter Worte! Wir, die Fahrstuhlpassagiere, waren zwischen Erdgeschoss und erster Etage schon erschlagen. Uns war plötzlich ganz mulmig. Und ein großer Mann zitierte sogar einen anderen. So Johann Wolfgang von Goethe: „Humboldt überschüttet uns mit geistigen Schätzen.“

Es war elf Uhr vormittags. Ein verregneter Donnerstag im Januar. Wir Fahrstuhlbenutzer waren voller Ehrfurcht. Von einem Keulenschlag zu Boden gestreckt: Goethe und Humboldt vereinten ihre Kräfte und stürzten sich auf uns. Mitten in Berlin in einer engen Kabine eingezwängt, in Gesellschaft der Olympier des deutschen Bildungsbürgertums, fühlten wir uns winzig klein. Unbedeutend. Eine Handvoll Versager, das waren wir! Und ich muss gestehen: Ich habe mich, leise und nur für mich, sooo nach einem guten, soliden, doofen Schwiegermutterwitz gesehnt.

Als wäre es verboten, einfach gar nichts zu denken oder die Augen zur Decke zu heben und darauf zu warten, dass die Zeit verging, gedankenlos, vielleicht auch zufrieden. Ja, ganz simpel zufrieden mit dem so wenig spektakulären, aber im Großen und Ganzen doch angenehmen Lauf der Dinge, den unsere bescheidenen Leben an diesem Morgen nahmen.

Aber nein! Diese wenigen Minuten des Schwebens zwischen zwei Stockwerken mussten genutzt werden, um die Welt und die eigene ethische Ausrüstung infrage zu stellen. An den Wänden war die große deutsche Denkertradition in einige definitive Maximen gehackt, sie war ebenso leicht zuzubereiten und zu verdauen wie ein Beutel vorgekochter Reis von Uncle Ben’s.

Ist eine Fahrt mit dem Lift nicht die erträumte Gelegenheit, um sich eine gründliche existentialistische Hinterfragung zu gönnen? Denk’ mal über dein Leben nach! Bis jetzt hast du alles falsch gemacht! Eine Umkehr ist dringend notwendig! Das einstige Privileg der Pfarrer und Philosophen ist zu einer Mission verkommen, zu der sich jeder Kurator, jede Werbeagentur berufen fühlt. Keine Gelegenheit darf versäumt werden, seinen Mitmenschen einen Verbesserungsvorschlag ins Gewissen zu flüstern.

Es ist an der Zeit, dass ich Ihnen eine kleine persönliche Schwäche beichte. Mögen die Herrn Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe mir verzeihen. Mein Berliner Lieblingsaphorismus ist ganz klar: „Ick koof bei Lehmann“.

Ich schäme mich ein bisschen wegen dieser Neigung, die zugegebenermaßen die Grenzen meines Geistes zum Ausdruck bringt. Herrn Lehmann zum Herrn seiner Gedanken zu machen ... einen Großhändler für Spirituosen, Wein, Wasser und Bier den beiden Aushängeschildern des deutschen Denkens vorzuziehen – da möchte man doch gleich sechs Fuß tief im Boden versinken. Und trotzdem – jedes Mal, wenn ich einen Lehmann-Lieferwagen sehe, jedes Mal, wenn ich das Klirren der Flaschen in den Kisten höre, die ein Paar behaarte und muskelbepackte Arme auf das Trottoir stellen, jedes Mal macht mein Herz einen Freudensprung, und ich schmelze vor Zärtlichkeit für meine Adoptivstadt dahin.

Ick koof bei Lehmann, das ist Berlin. Ich liebe die Klarheit der Botschaft, die schlichte, direkte, etwas dümmliche Aufforderung. Ein proletarischer Aphorismus, ruppig, unverblümt und – Gott sei Dank! – ohne literarischen Bezug, ohne moralische Anforderung.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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