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 Pascale Hugues schreibt für das französische Magazin "Le Point".

© Tsp

Mon BERLIN: Im Dorf der leidenden Seelen

Der Spielverderber ist eine menschliche Spezies, die das Leben gern mit gerunzelter Stirn, schwerem Gemüt und schleppenden Füßen durchwandert. Das Meckern ist ihm zur zweiten Natur geworden – ein kleines Vergnügen, dem er sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit begeistert hingibt.

Der Spielverderber ist eine menschliche Spezies, die das Leben gern mit gerunzelter Stirn, schwerem Gemüt und schleppenden Füßen durchwandert. Das Meckern ist ihm zur zweiten Natur geworden – ein kleines Vergnügen, dem er sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit begeistert hingibt. Schon bei den ersten Flocken springt er auf die meteorologischen Barrikaden, die Waffe in der Hand, bereit zum Gefecht. Völlig sinnlos wäre es, ihm von der Schönheit der Landschaft, dem Raureif auf den Ästen, der wattigen Stille, der plötzlichen Ruhe vorzuschwärmen. Für ihn bedeutet der Schnee nur eine Quelle an Unannehmlichkeiten.

Sehen Sie nur die Schwertstreiche gegen seine ganze Umgebung: Der Bürgersteig muss geräumt werden! Das Auto springt nicht an! Die weißlichen Aureolen auf den Schuhen! Und diese Kälte! Das Glatteis! Was für ein Leben! Was für ein Hundeleben!

An meinem Fenster im Oderbruch betrachte ich den ersten Schnee. Dieses Fenster mit Blick auf die Straße ist mein improvisiertes Fernsehen. Die einzige Zerstreuung in einem 200-Seelen- Dorf ohne Kneipe. Wenn ein Hund vorbeiläuft, ist das ein Event. San Francisco, Frisco gerufen, ist der Hund meiner Nachbarn. Ein Pudel, schwarz wie die Nacht, mit dem Namen – Gott weiß, warum – jener in Sonne gebadeten, prächtigen kalifornischen Bucht, Lichtjahre vom

Oderbruch entfernt. Grau, düster, trist im Monat Dezember.

Auf dem gegenüberliegenden Trottoir trottet Frisco, gefolgt von seinem Herrchen – kleiner Hut, dicker Kopf, Wanderstock, schlechte Laune. Normalerweise ziehen sie dreimal täglich vor

meinem Fenster vorbei. Morgens um 8 Uhr, um 11.30 Uhr, kurz vor Einbruch der Nacht. Eine fast auf die Minute genau gehende Uhr. Aber der Schnee hat daraus ein sich unaufhörlich drehendes Karussell gemacht. Frisco kommt und geht, ein dunkler Punkt im hellen Schnee, gefolgt von seinem atemlosen Herrchen. Sie steigen bis zum Ende der Straße hoch, gehen um das Schloss herum (o nein, nicht Versailles! Vielmehr ein plumpes viereckiges Haus mit drei Holzsäulen) und kommen denselben Weg wieder herunter. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Sie halten nicht mehr an. Det janzen Schnee! schimpft mein erschöpfter Nachbar. Da üst nüchts zu machen! Wenn’s schneit, wüll er nüch. Sobald es schneit, ist es vorbei, Friscos Eingeweide sind gelähmt. Und es soll die ganze Woche schneien. Programmierte Darmträgheit im Oderbruch.

Am zweiten Tag schneit es

weiter. Der Himmel grau in grau. Nicht vereinzelte Flocken, die die Haut streicheln, sondern ein dünner, eisiger Schneeregen, der den Körper durchdringt. Frisco, das arme, vor Kälte zitternde Tier, streikt weiter. Kein Wunder. Auch nach fünf Runden tut sich nüchts! Jar nüchts! Mit Tränen in den Augen beschreibt mein Nachbar mir mit der Präzision eines Verkehrspolizisten den Stau in Friscos

Gedärmen, dicht wie auf einer Autobahn am Ende der Schulferien. Der Mangel an Schamgefühl bei den Hundebesitzern erstaunt mich immer wieder. Stunde um Stunde hält mein sonst so diskreter, ja fast schüchterner Nachbar mich über die Bewegungen und Zuckungen von Friscos Darm auf dem Laufenden.

Am dritten Tag geht gar nichts mehr. Mir kommt es vor, als ob Frisco seinen Umfang seit gestern verdoppelt hat. Ich schlage vor: Pflaumen, Traubensaft, indischer Flohsamen, Olivenöl, Paraffin. Ich versuche mich nützlich zu

machen. Mein Nachbar hat schon alles versucht. Frisco kann einfach nicht, wenn es schneit. Und es schneit und schneit. Ein Scheiß! Ein Scheiß! Det Schnee! Ich bewundere die so passende Wortwahl meines Nachbarn.

Am vierten Tag klammern sich schwere Flocken an die Dächer, die Bäume, Friscos Fell. Draußen: sanfte Schneelandschaften.

Beim Nachbarn: Alarm. Was tun?

Das ganze Dorf leidet mit. Drückt die Daumen. Hat er? erkundigt man sich, wenn man ihm begegnet. Ich zähle die Runden, die Frisco und sein Herrchen drehen. Fünf Runden. Zehn Runden. Mir wird schwindlig. Fünfzehn Runden. Nüchts! Wieder nüchts! Mit Daumen und Zeigefinger formt mein Nachbar eine Null.

Am fünften Tag bellt Frisco nicht mehr. Übrigens ist er den ganzen Tag noch nicht draußen gewesen. Ich beziehe meinen Beobachtungsposten am Fenster. Die Sorge bringt mich fast um, aber ich wage es nicht, bei meinen Nachbarn zu klingen und mich zu erkundigen. Ist Frisco geplatzt? Leise rieselt der Schnee im Oderbruch.

Die Autorin schreibt für das

französische Magazin „Le Point“. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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