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Mon BERLIN: Mark Spitz und Che Guevara

Im Jahr 1972 war meine Kindheit noch nicht ganz vorbei. Mein Herz galoppierte zwischen Mark Spitz und Che Guevara hin und her.

Im Jahr 1972 war meine Kindheit noch nicht ganz vorbei. Mein Herz galoppierte zwischen Mark Spitz und Che Guevara hin und her. An meiner Zimmerwand zwei Poster nebeneinander: Mark Spitz in einer Minibadehose (50 Sterne) und Che mit Baskenmütze (ein einzelner roter Stern), im Mund die Havanna.

Ein olympischer Sieger und ein Guerillero, wahrhaftig nicht dasselbe Genre, aber ein paar Jahre lang bildeten die beiden ein harmonisches Paar. Sie ergänzten sich perfekt. Die muskulöse Schönheit des einen und das gute soziale Gewissen des anderen. Der Körper und die Seele.

Ich weiß: Meine Schwärme waren nicht ganz originell. In den 70er Jahren träumte jedes Mädchen davon, sich in die Schmetterlingsarme von Mark Spitz zu kuscheln, und anscheinend besitzen bis heute 20 Millionen Menschen ein T-Shirt mit dem Bild des Heros der kubanischen Revolution. Glücklicherweise ließen sich nach einigen Jahren andere, subtilere Ikonen auf den Wänden meines Zimmers nieder.

„In einen solchen Spießer warst du verliebt!!!“, rügte mich diese Woche in einer kleinen Runde mein entsetzter Tischnachbar. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, als wäre ich von einer seltenen und besonders abstoßenden sexuellen Perversion befallen. Ernesto Che Guevara, o. k. Er starb für seine revolutionären marxistischen Ideale. Der Körper von Kugeln durchsiebt. Aber Mark Spitz! Wie hatte ich mich in einen verknallen können, der seine Seele an Dutzende Sponsoren verkauft und dann auch noch ein Maklerbüro in Beverly Hills aufgemacht hatte!

Aber das Schlimmste, schüttelte sich mein Nachbar, war ja wohl dieser Schnauzer! „Du würdest heute einen Riesenbogen um diesen Schnurrbart machen! Das darf ich doch hoffen! Oder?“ Der Schnauzbart und der Kinnbart von Che Guevara sind anarchistisch. Diese Attribute erscheinen als Wildwuchs, vergleichbar dem wuchernden Unkraut in einem verlassenen Garten, weil ihr Besitzer Besseres zu tun hatte, als sich sorgfältig zu rasieren. Er war völlig damit beschäftigt, gegen die Ausbeutung der Armen und für eine bessere Welt zu kämpfen. Aber der Schnauzer von Mark Spitz! Allmorgendlich mit der Nagelschere vor dem Badezimmerspiegel gestutzt! Und seht doch nur, wie er ihn glattstreicht, bevor er in das olympische Schwimmbecken springt!

Ich war sprachlos. Versteinert. Ich fühlte mich in die Ecke gequetscht. Wäre ich feige genug, mich von dieser ersten Flamme meiner Kindheit loszusagen? Ich verabscheue die Treulosen. Die, die sich früherer Lieben schämen und damit sich selbst verleugnen. Also musste ich standhaft bleiben. Koste es, was es wolle.

Ich beschloss, meinen guten Geschmack auf die Probe zu stellen. Auf Youtube sah ich mir eine Übertragung von damals an. Und wie vor 40 Jahren schmolz ich dahin. Er sieht verdammt gut aus! Der Schnauzbart allerdings … Ja, in jenen Zeiten triumphierte die Männlichkeit. Nicht etwa ein leichter Flaum auf dem Oberlippenrand oder ein englischer Rosenteint, nein, ein echter Schnurrbart, gerade und dicht, der den Mund maskiert und die Wangen teilweise verdeckt. „My good luck piece!“, entgegnete Mark Spitz den Spöttern. Die Rasur stand nicht zur Debatte. Schließlich waren die 70er die Ära der Beatles und der Rolling Stones. Der Triumph der Bärtigen und der Haarigen.

Wie viele Sekundenbruchteile gewinnt man, wenn man rasiert ist?, fragte ich mich beim Anblick der kahlen Schwimmer in London. Sie haben kein einziges Haar mehr am Körper. Würden sie die 100 Meter Schmetterling mit dem Schnurrbart von Mark Spitz angehen, wäre das fast so, als wollte Niki Lauda beim Großen Preis von Monaco mit angezogener Handbremse fahren. Die Niederlage wäre sicher.

Die historische Betrachtung der Olympischen Spiele zeigt das Vergehen der Zeit und der Moden. Wie rührend waren doch die Schwimmer mit ihren Badehosen unterhalb des Bauchnabels, ihren Haaren im Nacken und ihren einfarbigen Frotteebademänteln. Das Doping vor dem Start bestand in einem Glas Orangensaft. Keine Schwimmbrille, keine Badekappe, keine Logos, keine Aufnäher, keine in riesigen Lettern auf die Kleidung tätowierte Werbung. Welch ein Skandal, als der mit der Goldmedaille behängte Mark Spitz begeistert seine Sportschuhe in die Luft schwang. Die Welt war noch so unschuldig, wie die hinter dem Podium aufgereihten jungen Bayerinnen in Dirndl und weißen Kniestrümpfen.

Die Schwimmer von London sind mir unheimlich. Mit ihren Gliedern, deren Proportionen nicht stimmen, und ihrem monumentalen Kreuz sehen sie aus wie die Killer in den Videospielen unserer Söhne. Sie sind nicht mehr von dieser Welt. Autisten, Kopfhörer in den Ohren, die Kappe auf den Schädel geklebt, wippender Gang. Ja, neben ihnen wirkt mein Mark Spitz vielleicht altmodisch. Aber welche Pubertierende von heute würde sich in die anatomischen Außerirdischen verknallen?

Aus dem Französischen

übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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