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Mon BERLIN: Mausebär, lass die Dame in Ruhe!

Berlin nimmt Abschied von Knuts Papa“, verkündet die „B Z“ am Kiosk im Hauptbahnhof. Während ich auf den Zug nach Frankfurt warte, frage ich mich, wie der Papa eines Eisbären wohl aussehen mag.

Berlin nimmt Abschied von Knuts Papa“, verkündet die „B Z“ am Kiosk im Hauptbahnhof. Während ich auf den Zug nach Frankfurt warte, frage ich mich, wie der Papa eines Eisbären wohl aussehen mag. Vor meinem inneren Auge springt ein Zwitter auf den Bahnsteig: Die untere Partie: ein Eisbär, so weiß wie der erste Schnee im Winter; der obere Teil: ein Mann mit strähnigem Bart und großen verträumten Augen, Stil argentinischer Tangotänzer. Knuts Papa – wie die kleine Meerjungfrau, halb Mädchen, halb Fisch, wie der Zentaur, halb Pferd, halb Mann, wie die Harpyie, halb Vogel, halb abstoßende Frau.

Der Zug fährt ein, und ich komme zu dem Schluss, dass der „B Z“-Journalist wohl kaum sein Lexikon der griechischen Mythologie konsultiert hat, bevor er diesen herzzerreißenden Abschied von Thomas Dörflein, dem Tierpfleger im Zoologischen Garten, verfasst hat. „Knuts Papa“ – da spricht eher die Stimme des Herzens, das ist einer dieser sentimentalen Spitznamen, wie Mamas Mäuschen oder Papas Mausebär. Denn in allen Ecken von Berlin findet man Spätzchen, Flöhe, Kätzchen, Häschen … die deutsche Hauptstadt ist ein gigantisches Tierreservat, in dem tausend verschiedene Rassen leben, und sie alle stammen zu 100 Prozent von menschlichen Eltern ab.

Ich zum Beispiel, von Kopf bis Fuß von menschlicher Gestalt, bin stolze Chefin einer Großfamilie. Ich bin die Mama nicht nur meiner beiden Söhne, sondern auch von Joschi und Frankie, zwei gesunden mongolischen Wüstenrennmäusen, und von etwa dreißig Motten, die zwischen Vorratskammer und Kleiderschrank hin- und herfliegen und sich unsere Haferflocken ebenso schmecken lassen wie unsere Pullover, wobei sie Kaschmir eindeutig bevorzugen. Oh, fast hätte ich meine einsame Tochter vergessen, die Spinne, die in der Badewanne wiedergefunden wurde, und meine Söhne, die Blattläuse, die in den Blumenkästen auf dem Balkon logieren. Vom angeblichen Geburtenrückgang in Deutschland will ich nichts mehr hören!

Man muss nur einmal um den Grunewaldsee joggen, um festzustellen, dass Berlin von Papas und Mamas, die der Erziehung ihrer Sprösslinge höchste Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, nur so wimmelt. Vorige Woche unterhielt sich unter herbstlichen Sonnenstrahlen Mephistos Papa mit Pinas Mama. Ein schmerbäuchiger Boxer mit Hängebacken und ein rassiger Pudel spielten im Sand Fangen, während ihre Eltern die Adressen ihrer Tierärzte austauschten. Seit ich einmal wöchentlich den See umkreise, ist mir klar geworden, dass die Hunde immer häufiger menschliche Vornamen tragen. Schluss mit den lächerlichen und banalen Fifi, Lassie und Rex, die jedoch so leicht von der Zunge gingen. Die Hunde heißen Paul und Michael – wie Kinder. Die Meerschweinchen: Renate und Hildegard – wie Großmütter. Die Kaninchen: Winston und Helmut – wie Politiker. Ein Kinderersatz, den man verwöhnt und schimpft, mästet und verhätschelt.

Am Grunewaldsee spricht man mit den Hunden wie mit kleinen vierpfotigen Menschenwesen. Herrchen Oliver zankt mit seinem abenteuerlustigen Labrador Gregor, weil der sich in das eisige Wasser gestürzt hat. Oliver nutzt die Gelegenheit, an dem armen Tier den ganzen Ärger des Tages auszulassen. „Gregor, zurück!“ Seine Stimme ist schneidend scharf wie ein Samuraischwert. Allerdings würde es heute wohl niemand mehr wagen, sein Kind dermaßen anzuschreien. Wie schön, dass man sich gegenüber den Haustieren noch so autoritär aufführen darf. Und als der pitschnasse Gregor sich auf mich stürzt, um sich an meiner Seite trocken zu schütteln, fleht Oliver plötzlich sanft und honigsüß: „Nein, nein, Gregor, Mausebär, lass die Dame in Ruhe!“ Auf einmal wird mir schwindelig. Der Grunewald hat sich mit seltsam gekreuzten Kreaturen bevölkert, mit angsterregenden Wesen, mit Monstern. Halb Hund und halb Kind, halb Hund und halb Mausebär … Ich beschleunige meine Schritte. Ich fliehe, so schnell ich kann.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke. Von Pascale Hugues ist gerade das Buch „Marthe und Mathilde“ erschienen (Rowohlt), in dem sie das Leben ihrer Großmütter erzählt.

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