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Meinung: MON BERLIN Palermo im Hinterhof

In brütend heißen Sommernächten verwandelt sich unser Hinterhof in einen gigantischen Resonanzkörper. Jedes Rascheln, jedes Flüstern wird von den hohen Mauern reflektiert und verstärkt; so bleibt unsere kleine Hausgemeinschaft über das Intimleben jeder Etage auf dem Laufenden.

In brütend heißen Sommernächten verwandelt sich unser Hinterhof in einen gigantischen Resonanzkörper. Jedes Rascheln, jedes Flüstern wird von den hohen Mauern reflektiert und verstärkt; so bleibt unsere kleine Hausgemeinschaft über das Intimleben jeder Etage auf dem Laufenden. Die aus Gier nach frischer Hinterhofluft weit aufgerissenen Altbaufenster bahnen Schlafzimmergeheimnissen den Weg, jeder wird zum Mitwisser der intimen Verrichtungen des anderen – eine unentrinnbare Promiskuität. Die Sommernächte unserer Hauses folgen stets dem gleichen Klangrhythmus:

18 Uhr: Der Wäschetrockner aus der zweiten Etage pfeift zum dritten Mal, dann beginnt im vierten Stock die Klavierstunde, deren Tonleitern 45 Hausbewohner quälen. Im ersten Stock informiert ein Anrufbeantworter das ganze Gebäude vom bevorstehenden Besuch Tante Monikas.

20 Uhr: Der Höhepunkt des Klanginfernos. Während der Vorspann zur „Tagesschau“ erklingt, mahnen entnervte Eltern ihre überreizten Sprösslinge: „Zähne putzen, und zwar sofort!“ Auf dem Hof sortiert ein Pedant seine Flaschen mit erbsenzählerischer Akkuratesse in die vorgesehenen Container. Gabeln kratzen auf Tellern herum, dazwischen banale Gesprächsfetzen. Die Meditationsgeräusche des Yogis aus dem Seitenflügel tauchen den Hinterhof für einen Moment in ein vollständiges Koma. Letzten Sommer ließ ein kleines, schlecht geöltes Windrad auf dem Fensterbrett gegenüber den Valium-Konsum unserer Hausgemeinschaft explosionsartig in die Höhe schnellen.

22 Uhr: Improvisiertes Duett aus Reggae in der zweiten und Brahms in der vierten Etage. Der Frauenheld aus dem Vorderhaus entkleidet seine Beute, beim Geschirrspülen werde ich unfreiwillig zum akustischen Voyeur eines ausgedehnten Vorspiels.

3 Uhr morgens: Nicht das! Sie tut’s schon wieder! Die Schlaflose aus dem zweiten Stock im Hinterhaus, die greise Grande Dame des Bordells, das in den goldenen Zeiten unseres Mietshauses in der ParterreWohnung residierte, verbringt ihre Nächte damit, sich Boxkämpfe im Fernsehen anzusehen und dabei eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. In allen Etagen werden die Fenster brutal auf- und zugeschlagen. „Ruhe!“, schreit ein Verzweifelter, doch die Schlaflose hört nichts. Ich habe sogar schon versucht, sie mit Kastanien zu bewerfen und Wasser durchs Fenster zu kippen – keine Reaktion. Technischer K.o. auf dem Plüschsofa.

5 Uhr: Der Radiowecker eines unidentifizierten Schichtarbeiters dröhnt dem anbrechenden Tag das Titelstück aus „Titanic“ entgegen. Das ganze Haus stürzt in einen Schiffbruchs-Albtraum: Ein Riss zieht sich vom Parterre bis zum Dach, wir versinken alle zusammen in den eisigen Wassern des Atlantiks. Der Schichtarbeiter gönnt sich den Luxus, noch zehn Minütchen zu dösen, während das Haus untergeht. Dann lässt uns das kalte Wasser schweißgebadet hochschrecken.

6 Uhr: Der Hinterhof verwandelt sich in eine gigantische Volière. Alle Vögel singen. Die schönste Stunde dieser kurzen Nacht.

7 Uhr: „Maaamaaaa!“ Der Kleine aus dem Dritten läutet das brutale und unwiderrufliche Erwachen des gesamten Hauses ein. Klospülungen. Duschgesänge. Espressomaschinen-Gezischel. Der Wetterbericht im Radio. „Zähneputzen, und zwar sofort!“ Fast wähnt man sich in Palermo, so laut und redselig gibt sich Berlin plötzlich.

Allerdings nur, bis uns das Krächzen der Krähen und das Krak-Krak der Schnee schaufelnden Hausmeisterin noch vor dem Öffnen der Vorhänge wissen lässt, dass der Winter gekommen ist. Beim ersten Temperatursturz hüllt sich das Mietshaus in schamhaftes Schweigen. Jeder zieht sich zurück in die Welt hinter den eigenen Fenstern. Der Hinterhof gewinnt seine reservierte Stille zurück. Adieu Palermo.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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