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Mon BERLIN: Peepshow für die Ohren

Es war einmal eine Zeit, als man sich Liebeskummer, Unterleibsschmerzen und den Kleinkrieg im Büro leise flüsternd mitteilte. Eine Zeit, als das Privatleben sich in einem gut geschützten und vertrauten Raum abspielte. Eine Zeit, als das Schamgefühl noch eine Tugend war.

Heute stellt man freiwillig die intimsten Bereiche zur Schau. An dem Gemeinschaftstisch in der Sushi-Bar, wo ich gern zu Mittag esse, habe ich schon so manches Mal bedauert, dass ich mir nicht Oropax mitgebracht hatte, um mich vor den unerwünschten Indiskretionen zu schützen. Nicht einen Moment darf man ganz für sich seine Ingwerscheibchen knabbern, ein wenig in der Zeitung blättern, vor sich hin träumen, einfach abschalten.

Nein, das Aufeinanderhocken zwingt Ihnen das Gespräch des Paares auf, das – ohne Guten Tag zu sagen – am Tisch Platz genommen hat. Diese Woche etwa wurde ich zur Zeugin einer ehelichen Foltersitzung. Sie, mit vorwurfsschwerer Stimme: Nie setzt du dich abends mit einem Buch hin. Er, sehr demütig: Du weißt genau, dass ich mich beim Fernsehen besser entspanne. Sie, schneidend wie eine englische Gouvernante: Na gut, aber wann hast du das letzte Mal ein Buch ganz gelesen? Er, in Vorahnung des aufziehenden Sturmes, mit hängenden Schultern und starrem Blick auf seine Reisschale: Du hast ja recht, mein Schatz. Sie, kämpferisch: Mit Literatur entspannt man sich eher als mit Dieter Bohlen! Er, entschlossen, sich nicht alles gefallen zu lassen: Ja, aber beim Fernsehen entspanne ich mich besser … etc. … etc. …

Durch die großen Glasfenster beobachte ich einen hässlichen kleinen Hund und sein Herrchen, die gerade vorübergehen. Ich versenke die Augen in der Zeitung. So was! Schon ein Jahr ist Nicolas Sarkozy an der Macht. Ich verschicke eine SMS. Ich huste leicht. Ich räuspere mich. Ich gebe mich geschäftig. Ich tue so, als ob ich nichts höre. Schrilles Läuten seines Telefons. Sie, entrüstet: Wer ruft denn jetzt in der Mittagszeit an? Er, kleinlaut, in Erwartung eines Hagels von Vorhaltungen: Oh, entschuldige. Er weiter, jetzt fast zitternd: Ich habe völlig vergessen, dass ich heute Mittag verabredet war. Sie, eisig: Wie kann man sich nur am Freitagnachmittag verabreden? Ich, unfähig es noch eine Minute hier auszuhalten: Die Rechnung, bitte! Ich muss sofort die Flucht ergreifen, sonst stopfe ich meiner Tischnachbarin die Essstäbchen in den Rachen, damit sie endlich den Mund hält. Wenn ich daran denke, dass es in den Restaurants früher Separees gab, kleine abgeteilte Nischen, Paravents und Vorhänge, um die Gespräche vor neugierigen Ohren zu schützen. Ich hätte Lust, die beiden in eine Kammer zu sperren, abgeschottet vom Rest der Welt, und den Schlüssel zweimal umzudrehen.

Genau das Gleiche in den Großraumbüros. Auf diesen nackten Landepisten gibt es keine Rückzugsmöglichkeiten. Für mich wird Willy Brandts Tod auf ewig mit einer langen Erklärung zur Bratzeit eines Hähnchens verbunden sein: Es war in Paris im Jahr 1992. Ich saß an meinem Rechner im Großraumbüro meiner Zeitung und versuchte, den Nachruf auf den großen Staatsmann zu Ende zu bringen. Währenddessen bereitete am Schreibtisch nebenan meine Kollegin mit ihren Schwestern ein großes Familienpicknick vor. „Ich versichere dir, Dominique, eine Stunde bei 150 Grad, das reicht für das Hähnchen!“ Und in meinem Kopf vermischte sich alles. Die Ostpolitik und das Brathähnchen. Der Kniefall in Warschau und der Reissalat. Der Friedensnobelpreis und der Schokoladenkuchen. Natürlich hätte ich einen Helm aufsetzen und mit Willy Brandt auf eine Insel des Schweigens fliehen können. Aber ich hatte an dem Tag keine Lust, wie ein Astronaut auszusehen.

Die großen Spanner unserer Zeit sind die Handys. Ihnen verdanken wir die urbane Kakofonie, die unaufhörliche auditive Peepshow. Mit dem Ohr direkt am Gerät spricht man laut und denkt nicht daran, dass rundherum alle das Gespräch mitbekommen. Im Zug müssen wir an allem teilhaben, Küsschen, Küsschen, ich liebe dich, du fehlst mir, noch mal Küsschen, dazu das anzügliche Glucksen des Herrn auf dem Platz hinter uns. Gestern früh auf einer Caféterrasse die durchdringende Stimme einer jungen Frau: „Ja, Frau Bollinger, ich sitze ganz still in der Sonne und genieße die Ruhe. Schießen Sie los!“ Für mich war Schluss mit der Ruhe! Frau Bollinger hatte eine Menge zu erzählen. Wie ganz Berlin übrigens an diesen sonnigen Tagen.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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