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Meinung: MON BERLIN Revolution unterm Pflaster

Temperatur: 20,6 Grad. Berlin hat diese Woche mal wieder einen Rekord zu feiern, und die ersten Sonnenstrahlen bringen nicht nur Schneeglöckchen und Verliebte zum Vorschein – sie bringen auch die Revolutionäre auf die Straße.

Temperatur: 20,6 Grad. Berlin hat diese Woche mal wieder einen Rekord zu feiern, und die ersten Sonnenstrahlen bringen nicht nur Schneeglöckchen und Verliebte zum Vorschein – sie bringen auch die Revolutionäre auf die Straße.

Letzten Samstag hätte man die auf dem Adlershofer Waldfriedhof finden können – wenn der Chef der örtlichen Antifa-Gruppe nicht gerade Grippe gehabt hätte, und wenn der Jahrestag der Arbeiterfront gegen den Kapp-Putsch, der im März 1920 ein Blutbad im Viertel anrichtete, nicht schon letztes Jahr ausgiebig gefeiert worden wäre. So war ich die einzige, die beim Monument für die Märzopfer nach innerer Sammlung suchte. Man erklärte mir, dass man in Berlin auch mit der Erinnerung sparen müsse: Für eine Zeremonie reiche es leider nur alle fünf Jahre.

Mittwochabend in der Adlershofer Wohnung von Anna Seghers. Draußen eine samtschwarze Nacht, drinnen, in der dritten Etage, ein konspirativer Zirkel von Damen mit kurzen Haaren und lauten Stimmen, die die Emanzipation der Gesellschaft einfordern und gemeinsam beschließen, nach Lebensentwürfen jenseits des konventionellen Bürgertums zu suchen. Während ganz Berlin auf den Café-Terrassen flirtet, widmet man sich in Adlershof den politisch-psychologischen Anliegen der Revolution von 1918. Dieser verfluchte 9. November, den die Deutschen nicht feiern dürfen, weil sich an diesem Tag drei widersprüchliche Ereignisse überlagern: die misslungene Revolution von 1918, die Progromnacht, der Fall der Mauer.

Mittwoch, 15 Uhr. Für demokratische Tradition und revolutionären Geist! Heraus zum 18. März! Die Gläubigen versammelten sich auf dem Platz des 18. März, um der Revolution von 1848 und der ersten freien Wahlen der DDR am 18. März 1990 zu gedenken. Zwei Revolutionen an einem Tag! Wer eher häuslich veranlagt ist, kann die Revolution auch im Internet feiern: Ein Klick auf www.maerzrevolution.de genügt, um sich zurückzulehnen und leidenschaftlich mitzusummen: „Wir sind das Volk, die Menschheit wir! Sind ewig drum, trotz alledem!“ Ich habe versucht, www.14juillet.fr einzugeben. Nichts. Keine Chance, die Revolution auf meinem Berliner Balkon aufleben zu lassen.

17 Uhr: Die Verehrer von 1848 legen Kränze in Friedrichshain nieder. Auf dem gleichen Friedhof, der Mitte Januar zum Schauplatz einer geisterhaften Prozession all jener wirren Sekten wurde, die in Deutschland zur Linken gerechnet werden – in Erinnerung an Karl und Rosa. Rote Nelken, Megafone, nicaraguanischer Kaffee. Die französische Trotzkistenliga kam mit dem Reisebus aus Paris vorbei. Von Berlin bis Ankara eine einzige Arbeiterrevolution, mit Arbeiterblaskapellen, Arbeiterbratwurst und Arbeiterglühwein. Was für ein Spaß!

Der März ist auch nicht mehr das, was er einmal war. Protest ist einfach nicht mehr in Mode. Kein Wunder in einer Zeit, in der David Beckham und Britney Spears die Tapeten pubertierender Jugendlicher zieren – statt Che und Angela Davis. In der „Revolution“ von den Beatles als Oldie klassifiziert wird. Aber lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten täuschen! Unterm Berliner Pflaster brodelt die Revolution. Trotz alledem!

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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