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Mon BERLIN: Rilke mit zwei Klicks? Auf keinen Fall!

Ein Gedicht auf den PC herunterzuladen ist so, als würde man ein 4-Gänge-Menü aus der Gefriertruhe ziehen, eine Scheibe Foie Gras in einem Big Mac verzehren oder Saint Emilion grand cru aus der Dose trinken. Unsinnlich, brutal, seelenlos, einfach verboten!

Vor ein paar Tagen kam mein Sohn aus der Schule und sagte: „Wir sollen ein Gedicht lernen. Ich suche mir einfach eins im Internet.“ Ich zögerte nur einen Wimpernschlag lang. Ich klickte mit der Maus auf „Ausschalten“, nach einer Sekunde war der Bildschirm schwarz. Ich wandte der Spitzentechnologie den Rücken zu und zeigte mit einer großen und unmissverständlichen Geste auf das Bücherregal in meinem Arbeitszimmer.

Nein, ich bereue dieses autoritäre Vorgehen nicht. Man mag mich als altmodisch und elitär brandmarken, mich wegen Technikfeindlichkeit lynchen: Lyrik auf dem Rechner, niemals! Verlaine googeln? Rilke mit zwei Klicks? Auf keinen Fall! Ein Gedicht auf den PC herunterzuladen ist so, als würde man ein 4-Gänge-Menü aus der Gefriertruhe ziehen, eine Scheibe Foie Gras in einem Big Mac verzehren oder Saint Emilion grand cru aus der Dose trinken. Unsinnlich, brutal, seelenlos, einfach verboten!

Nein, ich bin nicht grundsätzlich dagegen, dass Gedichte ihren Platz in den Büchern verlassen. Die Wände der Metro, die Espressotasse, sogar das Brettchen fürs Abendbrot sind ehrenwerte Grundlagen für Reime. Ein Goethe-Vers auf einem T-Shirt, zwei Zeilen Novalis auf einen fleischigen Bizeps tätowiert, das hat wirklich Pfiff. Im übrigen haben die Meister der Pop-Art schon vor langem darüber nachgedacht: Letzten Endes ist die Poesie ein schlichtes Konsumobjekt, flüchtig, billig, nach Gebrauch wegzuwerfen. Lächerlich, Bücher zum Heiligtum zu erheben!

Und doch betrachte ich die Bücher, die sich in meinen Regalen drängen. Sie alle haben eine Geschichte. Und das ist der große Unterschied zu den Versen, die in Blau und Weiß auf dem Monitor angezeigt werden. Schon beim Ausschütteln der Bücher fallen Erinnerungen heraus: ein getrocknetes Eichenblatt, ein blondes Haar, eine U-Bahn-Fahrkarte, eine Restaurantquittung. Manchmal ein Brief. Eine Widmung ruft eine vergangene Liebe wach, einen Geburtstag, ein Weihnachtsfest, den Triumph einer bestandenen Prüfung.

Mallarmé riecht moderig. Zu lange hat er in einem Karton im Keller überwintert. Und als ich ausgiebig an Prévert schnuppere, steigt mir der Geruch meines Kinderzimmers in die Nase. Ein wässriger Heiligenschein: Daraus schließe ich, dass das Buch auf dem Balkon vergessen wurde, als es anfing zu regnen. Eine oben rechts geknickte Seite berichtet von der Müdigkeit des Lesers. Vor dem Einschlafen hat er rasch noch die Seite markiert, um am folgenden Morgen die Lektüre genau dort fortzusetzen. Paul Claudel erinnert sich an meine Mühen als Schülerin. Die Verse sind durchgearbeitet. Am Rand habe ich Erklärungen notiert. Paul Claudel, das muss ich zugeben, strömt Schweiß und Langeweile aus. Nichts von all diesen Lebensspuren auf dem Din-A4-Blatt, das mein Drucker ausspuckt. Rilke ist geruchlos. Goethes Gedanken sind nie unterstrichen worden. Und auf Baudelaire hat die Zeit keine Spuren hinterlassen. Auf dem Bildschirm gibt es kein Alter. Was für eine Tristesse.

Während ich den Abartigkeiten der Moderne nachsinne, hat der Schüler sich auf dem Fußboden ausgestreckt. Wieder und wieder blättert er die Seiten um. Und er trifft seine Wahl: Tucholsky, „Die Schule“. Der Junge hat mit Bleistift die Verse ausgestrichen, die ihm zu kompliziert sind, und die unterstrichen, die er lustig findet. Er hat sich sein eigenes Gedicht komponiert. Schon hat Seite 219 eine Geschichte. Sie erzählt von diesem Nachmittag am Beginn des Sommers, von der Schwere des Himmels draußen, vom Kleinen, der lacht und sich über die „alten Scholarchen“ und „die alten Pauker mit blinden Brillen“ amüsiert.

Bei Google gebe ich „Die Schule“ „Kurt Tucholsky“ ein. 28 600 Fundstellen gibt es. Ich stürze mich auf www.textblog.de. In Sekundenschnelle erscheint das Gedicht. „Die Sammlung wird ständig aktualisiert und erweitert“, beruhigt mich der Provider, der mir „viele weitere Themen“ anbietet: Herz, Zyste, Zona, Frost, Obst, Frost, Blitz, Beirut, Rhein, Ego, Genesis, Meditationen, und mitten in alldem das Gesamtwerk von Kurt Tucholsky. Kurt-Tucholsky.info bietet mir den Text „im praktischen PDF-Format zum Lesen, Ausdrucken und Kopieren. Bitte nutzen Sie die Navigation auf der linken Seite, um mehr zu erfahren“. Wenigstens hat man sich die Mühe gemacht, auf dem Bildschirm einen Hinweis zu geben: „Aber natürlich gibt es auch viele Bücher von Tucholsky.“ Immerhin!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke

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