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Mon BERLIN: Sehnsucht nach Katla, dem großen Bruder

Der kleine isländische Vulkan hat uns ein paar Tage Abenteuer und wahre Ruhe geschenkt. Es war ein bisschen wie Schuleschwänzen. Und dann war da noch Axel Raab, ein Fels in der großen Erdbrandung.

Zurück in Berlin. Ich bin fast ein wenig nostalgisch heute Morgen. Die Flugzeuge spinnen wieder ihre langen, weißen Fäden über die Dächer, ihre Motoren brüllen seit dem Morgengrauen. Meine gebräunten Nachbarn haben die Ufer ihres azurblauen Swimmingpools in Teneriffa verlassen und den Weg zu den Kastanienbäumen unter ihrem Balkon in Schöneberg gefunden, zu ihren Stiefmütterchen, ihrem Hund, ihrem Sofa, ihren Vorgesetzten und ihren Kollegen im Büro – zur vorhersehbaren Abfolge der Tage.

Es gibt auch wieder schmucke Rosen aus Indien beim Blumenhändler am Ende der Straße, frischen Fisch in der siebten Etage des KaDeWe, Streifen von exotischen Früchten in den Cocktails der Nachtbars, und in meinem Briefkasten lag eine Postkarte aus New York. Uns fehlt es an nichts mehr. Die gut geölte Maschinerie des mobilen, globalisierten Planeten läuft wieder rund. Ja, alles ist wieder normal, aber mein Leben hat diesen pikanten Geruch nach Abenteuer verloren, der mich seit fast einer Woche erschauern ließ.

Unsere brodelnde Welt auf die Maße eines Hotelzimmers reduziert – das war ein paar Tage lang Zen. Beschauliche Enge. Himmlische Stille. Schluss mit dem Lauf gegen die Uhr, dem hektisch herbeigerufenen Taxi, den Terminen Schlag auf Schlag – fünf Tage auf einer Aschewolke.

Alles hat eine Schonfrist, alles ist in der Schwebe. Wir Robinson Crusoes, die wir auf fernen Inseln gestrandet waren, wir haben die Geduld neu gelernt. Wir waren zur Indolenz, ja zur Kontemplation gezwungen. Abhängig von einer Natur, über die wir keine Kontrolle mehr hatten, den Elementen ausgeliefert, den Windrichtungen, den Lavaströmen, den Aschepartikeln in der Atmosphäre. Wir waren ohnmächtige Sklaven eines hübschen vulkanischen Springbrunnens.

Nun ist alles wieder normal, und, ich wage es kaum zu sagen, ich bin ein wenig enttäuscht. Der kleine isländische Vulkan hat uns ein paar Tage Abenteuer und wahre Ruhe geschenkt. Es gab keine Toten, nur Verluste von mehreren Milliarden Euro. Nur ein leichter Schrecken: Komme ich noch nach Hause? Und endlich Zeit, den dicken Roman durchzulesen, ohne schlechtes Gewissen, denn schließlich konnte man ja nichts tun. Wir haben wieder gelernt, wie man die Zeit totschlägt, eine sehr gesunde Beschäftigung, oder einfach, wie man den Horizont auf der Suche nach einer Flugzeugsilhouette absucht. Es war ein bisschen wie Schuleschwänzen, diese unerwartete Freiheit, diese etwas schuldbeladene, aber köstliche Freude, dass man den ganzen Tag machen durfte, wozu man Lust hatte.

Aber am meisten wird mir Axel Raab fehlen. Fünf Tage lang hat Axel Raab mein Leben begleitet, vom Aufstehen bis mitten in der Nacht. Jeden Morgen war er da, treu und unerschütterlich, gleich einer tragenden Karyatide unter der Tafel Abflug / Ankunft am Frankfurter Flughafen. Sein ernstes Gesicht, sein grauer Bart, passend zum Rauch des Eyjafjallajökull, und jeden Tag eine andere Krawatte.

Axel Raab ist der Sprecher der Deutschen Flugsicherung. An seinen Lippen hingen Millionen Deutsche. Und auch ich wartete in meinem Hotelzimmer in Frankreich darauf, dass Axel Raab mir erlaubte, nach Berlin zurückzukehren. In solchen Krisensituationen erschaffen wir uns einen allmächtigen Gott. In seine erfahrenen Hände legen wir unser Geschick. Das ist ein Reflex. Zweifellos ein Mittel, um uns sicher zu fühlen. Und jeden Morgen bewunderte ich Axel Raabs Beherrschtheit. Er nahm es mit den ungeduldigen Touristen auf, er widerstand den entnervten Fluggesellschaften und gab mir Befehle. – Nichts bewegt sich! Die Sicherheit steht an erster Stelle! Axel Raab, ein Fels in der großen Erdbrandung.

„Die Erde duldet uns nur“, sagte der Taxifahrer, der mich am Dienstagabend nach Hause brachte. Er war Grieche, neigte offensichtlich zur Philosophie, und auf seinen rasierten Schädel war ein roter Stern tätowiert. Ein schlichter Vulkan hat es geschafft, unsere kleine Welt auf den Kopf zu stellen. Auf Deutsch nennt man das „höhere Gewalt“ – was für ein schöner Ausdruck. Wir sind nur Bagatellen in diesem großen Universum. Komisch, aber seit meiner Rückkehr hoffe ich heimlich, dass Katla, der große Bruder von Eyjafjallajökull, bald erwacht.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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