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Mon BERLIN: Überall Schätzchen mit Schnäuzchen

Donnerstag beim Mittagessen in einem Berliner Restaurant. Wir unterhalten uns über ernste Themen, mein Tischpartner und ich.

Donnerstag beim Mittagessen in einem Berliner Restaurant. Wir unterhalten uns über ernste Themen, mein Tischpartner und ich. Der Kellner, ein alter Berliner, wirkt in diesem Szenelokal etwas fehl am Platz. Er ist im traditionellen Stil gekleidet – weißes Hemd, schwarze Satinweste, nach hinten gekämmtes graues Haar. Die kleine Flasche Mineralwasser balanciert er über unseren Köpfen. „Für wen das Wässerchen?“, fragt er fürsorglich. Reflexartig kommt mir ein Reim in den Sinn, und so hänge auch ich bei meiner Antwort ein -chen an. „Für das Herrchen!“, sage ich zum Kellner und deute auf meinen Gesprächspartner.

Er sitzt mir gegenüber. Er starrt mich aus runden blauen Augen an. Er ist verblüfft. Und antwortet schlagfertig: „Aber ich habe keinen Hund!“ Ein surrealistischer Dialog. Ein mit den sprachlichen Geflogenheiten dieser Stadt nicht vertrauter Fremder würde uns für verrückt erklären. Diese an unsere Flasche angeklebte harmlose Verkleinerungsform hat genügt, um unser Gespräch auf den Kopf zu stellen.

In Berlin fühle ich mich oft, als würde ich einem Wörterbuch für Liliputaner leben. Diese Berliner Manie, die Bedeutung eines Wortes schrumpfen zu lassen und ihre Schreibweise zu verlängern! Berlin ist eine von Frauchen und Wässerchen bevölkerte Metropole, von Tchüssschen und Küsschen. Manchmal ist die Verniedlichung sogar doppelt gemoppelt. Nehmen Sie nur das winzig kleine Fräuleinchen. Eine Miniaturfrau. Eine kaum sichtbare Zwergin.

Die Angewohnheit der Berliner, diese Silbe an die meistgebrauchten Wörter anzuhängen, wäre nur ein seltsamer Tick, würde er nicht für einen französischen Mund ein unermessliches Ausspracheproblem darstellen. Ein –ch am Ende eines Wortes ist für Mund, Zunge, Gaumen eines Franzosen eine wahre Herausforderung. Genau genommen: ein Albtraum. Die Zunge klebt am Gaumen, drängt zu den Frontzähnen, rollt sich in sich selbst zusammen wie eine klebrige Schnecke, die Schleimhäute werden verschweißt, der Klang wird von den Lippen blockiert. Bis der Mund abrupt einen Strahl von Speicheltröpfchen ausstößt. Endergebnis: Ein feuchtes Gezischel, das in keiner Weise an ein sinntragendes Wort erinnert. Die gemeinste Tortur, vor der ich mich bisher immer gedrückt habe: stundenlang die Aussprache von Schätzchen üben … Ich kenne keinen schlimmeren Zungenbrecher als Schätzchen. Im Vergleich zu Schätzchen ist das französische les chaussettes de l’archiduchesse sont-elles sêches, archisêches ein phonetisches Kinderspiel. Und ich bitte Sie inständig: Verlangen Sie nie von mir, in einer Lesung diese Glosse vorzutragen!

Oh, wie viel lieber als das Berliner –ch ist mir das süddeutsche –lein oder das mir so vertraute –le meiner elsässischen Heimat. Schatzele, Miesele, Maidele … die ganze Zärtlichkeit der Kindheit quillt aus diesen Wörtern. Die Zunge streckt sich sanft, schnellt leicht gegen den vorderen Gaumen, ruhig und voller Zuneigung gleitet der Klang aus den halb geöffneten Lippen.

Warum nur müssen die Berliner jedes erwachsene Wort, das doch stolz darauf ist, verniedlichen, verkleinern, infantilisieren? Ein -chen am Ende einer Flasche Mineralwasser ist der Versuch des Kellners, zum Komplizen seiner Gäste zu werden. Neben einem zarten Mineralwässerchen kommt ein Mineralwasser wie ein stumpfer Rüpel daher. Ein Mineralwässcherchen knallt man nicht mitten auf den Tisch. Man stellt es sachte, sorgsam ab, mit einem Lächeln und einem „Bitte schön“. So ist das –chen zu interpretieren: Der Ober meint es gut mit uns. Er umhüllt uns mit seiner – ja, fast mütterlichen Fürsorge.

Den Berliner kann man nur verstehen, wenn man die Funktion des –chen entschlüsselt. Das –chen bringt unter der ruppigen und ein bisschen groben Fassade des Berliners die ganze Zartheit hervor, die tief in seinem Inneren wohnt. Die legendäre Schnauze wird zum Schnäuzchen. Und ein Schnäuzchen bellt nicht und beißt nicht. Ein Schnäuzchen schnappt nicht und brüllt nicht. Das –chen neutralisiert und besänftigt. Das –chen ist die schamhafte Façon des Berliners, sein großes weites Herz zu zeigen

Und außerdem – haben Sie es bemerkt? Ein Gläschen Mineralwässerchen schmeckt viel besser als ein Glas Mineralwasser.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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