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Mon BERLIN: Warum die Deutschen ihre Geranien hassen

Aufgepasst – in diesem Land geschieht Unrecht! Von blinden Henkern ist eine Unschuldige zum Tode verurteilt worden!

Aufgepasst – in diesem Land geschieht Unrecht! Von blinden Henkern ist eine Unschuldige zum Tode verurteilt worden! Beleidigt, misshandelt, öffentlich gesteinigt, obwohl sie sich doch keines Verbrechens schuldig gemacht hat. Heute morgen fühle ich mich wie Don Quichotte: Ich muss die arme Geranie retten!

Als ich in Berlin ankam, wollte ich Geranien in meine Balkonkästen pflanzen, ohne mir dabei etwas zu denken. Sie waren feuerrot, leuchtend und pflegeleicht. Sie waren einfach perfekt, um ein wenig Farbe in meine Wohnung zu bringen. Um mich herum war die Empörung groß: Aber das kannst du doch nicht machen, Geranien! Spießiger geht es nicht! Schrecklich! Provinziell! Geschmacklos! Hätte ich einen Akkordeon spielenden Gartenzwerg auf meine Balkonbrüstung gesetzt, die Abscheu hätte nicht heftiger sein können. Denn wie der Gartenzwerg gilt die Geranie als verachtenswertes Symbol der Spießigkeit, ein Charakterzug, den die Deutschen sich gern zuschreiben, wenn sie über sich selbst sprechen. Gehen Sie einmal in eine Buchhandlung und sehen Sie sich die Bücher über Deutschland an. Was sieht man auf den meisten Umschlagbildern? Einen Gartenzwerg oder einen Geranientopf. Die Geranie steht für „Unser Dorf soll schöner werden“, für ein Leben ohne frischen Wind und ein hinter den Gardinen verbrachtes stumpfsinniges Dasein in Schwarzwalddörfern. Zu knallig, zu adrett, zu sauber, zu billig, zu gewöhnlich … anders als die anderen Blumen bringen die Geranien uns nicht zum Träumen.

Ich habe nie begriffen, woher diese kollektive Ablehnung eigentlich kommt. Immerhin wage ich es heute, mich für diese unverstandene und ungeliebte Blume einzusetzen. Ja, ich gestehe: Ich liebe den Geruch der Geranien. Dieser zarte, ein wenig herbe, ganz besondere Duft. Ich rieche an Geranien sogar lieber als an Rosen. Die Geranie hat auch ganz praktische Tugenden. Sie vertreibt Mücken. Sie braucht kaum Platz: Ihre Wurzeln sind so fein, dass sie ohne jeden Aufwand noch in den kleinsten Topf schlüpfen. Aber vor allem liebe ich ihre Lebenskraft, die Energie, mit der sie ganz allein wächst, üppig wuchert, sich vermehrt. Nichts kann die Geranie aufhalten. Sie wächst und wächst, robust und strotzend. Die Geranie ist ein bisschen verrückt, sie kennt nicht Recht noch Ordnung. In wenigen Wochen verwandelt sie Ihre Balkonkästen in einen undurchdringlichen Dschungel.

Etwas völlig anderes als diese zarten, kleinen und so schicken Pflanzen, die die Szene-Floristen heute empfehlen. Beim kleinsten Schauer lassen sie die Köpfe hängen, verlieren schon nach ein paar Wochen ihre Blüten und sterben schließlich vor Erschöpfung, weil sie der Berliner Witterung und den Herausforderungen des Lebens nicht gewachsen sind. Sie sind empfindlich und kapriziös. Sie brauchen ständige Pflege, machen Scherereien. Mein Florist hat mir empfohlen, abends mit ihnen zu sprechen, um ihnen Mut zum Überleben zu geben. Die Geranie dagegen ist keine Nervensäge. Sie ziert sich nicht, sie ist groß, stark, lebensfroh. Am Abend braucht man sie nicht zu trösten, man muss ihr keine sanften Worte zumurmeln, keine Schau abziehen und sich zum Gespött der Nachbarbalkone machen: Ach, seht mal die Bekloppte von gegenüber, wie sie sich schon wieder mit ihren Blumen unterhält!

Die Geranie ist, ob es meinen Berliner Freunden gefällt oder nicht, die beliebteste Topfpflanze Deutschlands. Und ein bisschen habe ich den Verdacht, dass die arme Gemarterte als letzte Projektionsfläche für den Selbsthass dient, der von dieser Nation so lange kultiviert wurde. Seit der Fußball-WM vor drei Jahren nimmt sich jeder Deutsche das Recht, ohne schlechtes Gewissen die schwarz-rot-goldene Fahne zu schwenken. Nur die Geranie wartet noch auf ihre Rehabilitation durch diese Welle eines entspannten Patriotismus. Na, na, werden Sie mir sagen, nun übertreiben Sie mal nicht und beladen noch das winzigste Blütenblatt mit so merkwürdigen Interpretationen … Und doch bin ich überzeugt, dass meine kleine Theorie einen wahren Kern hat.

Allerdings blüht in diesem Jahr keine Geranie auf meinem Balkon. Zwei Oleander, ein provenzalischer Olivenbaum, eine kleine japanische Pflanze und andere exotische Schönheiten. Aber ich habe beschlossen, im nächsten Frühjahr Zivilcourage zu beweisen und einen Balkonkasten für Geranien zu reservieren. Und wenn mein Mut ausreicht, werde ich auch Stiefmütterchen pflanzen!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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