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Meinung: MON BERLIN Warum ich den Teufelssee meide

Der stämmige Zöllner am Flughafen von Pisa blickt mich merkwürdig an aus kleinen schwarzen Augen, er mustert mich von oben bis unten. Mit einem Mal fühle ich mich ertappt – nur: wobei?

Der stämmige Zöllner am Flughafen von Pisa blickt mich merkwürdig an aus kleinen schwarzen Augen, er mustert mich von oben bis unten. Mit einem Mal fühle ich mich ertappt – nur: wobei? Sehe ich wie eine Selbstmordattentäterin aus? 75 ml Semtex in der Zahnpastatube, ein Schlachtmesser in der Handtasche, eine Dynamitstange unter der Bluse? Der Zöllner trommelt mit den Fingern und lächelt mich plötzlich an. Natürlich! Italien! Latino-Welt, Flirt bei jeder Gelegenheit! Ich erröte, verheddere den Fuß im Tragegurt meiner Tasche. Der Zöllner platzt fast vor Lachen. Berlin hat mich entwöhnt. In Italien wäre es üblich, den Blick zu erwidern, direkt in die Augen. Oder so zu tun, als habe man nichts bemerkt, und seinen Weg lässig fortzusetzen.

Ich hatte die kleinen Signale in romanischen Ländern vergessen, wo alles dem Spiel der Blicke dient: die Palmsonntagsprozession, die Vorplätze der Kirchen als Beobachtungsposten, die „Stampa“ als heuchlerischer Schutz bei indiskreten Blicken, die hohen Absätze älterer Damen, damit sie sich besser recken und belauern können, die „passagiata“, um sich neidischen Blicken auszusetzen, die grotesken dunklen Sonnenbrillen, die die Hälfte des Gesichts verdecken, um besser zu sehen, ohne gesehen zu werden, verstohlene Blickwechsel, gesenkte Lider. All die subtilen Momente dieses raffinierten Spiels hatte ich vergessen: sehen, ohne gesehen zu werden; sehen und dabei so zu tun, als sehe man nichts; mit den Augen verschlingen; mit Blicken vernichten.

Geheimnis der Erotik

Zurück in Berlin. Der Frühling ist ausgebrochen. Die Straßen werden wieder belebter. Die Terrassen der Cafés, die Bürgersteige, Parks und Seen … die ganze Stadt ist plötzlich zu einem riesigen Erkundungsfeld für die Augen geworden.

Aber Berlin ist da viel direkter als Pisa. Bei den ersten Sonnenstrahlen zieht Berlin sich aus. Mein Nachbar sitzt mit nacktem Bauch in der Unterhose und offenbar ganz ohne Komplexe auf dem Balkon. Am Teufelssee beginnt wieder die große Parade geröteter Körper und welker Geschlechtsteile, die sich offen den Blicken darbieten.

Der entschleierte Knöchel einer moslemischen Frau oder die sich abzeichnende Brust im Schatten eines Dekolletés reicht nicht, um die Berliner in Erregung zu versetzen. Es muss das nackte Fleisch sein, roh und ohne jedes Geheimnis. Eine androgyne Welt, die ihre Erotik verloren hat. Jede Berührung wird zu einem Aufeinandertreffen zweier menschlicher Massen. Jeder Blick zu einer klinischen Untersuchung.

In Berlin zeigt man alles und blickt einander direkt in die Augen. Ein Stück seiner intimen Stellen zu verbergen, gilt als Rückkehr zu einer lächerlichen Prüderie. Den Blick zu senken als Symptom einer tiefen Hemmung.

Wenn also ein Berliner Zöllner Sie von oben bis unten mustert und mit den Fingern trommelt: Dann nehmen Sie sich in Acht! Der Hüter von Recht und Ordnung hat gewiss die Mona Lisa geortet, die Sie im doppelten Boden Ihres Koffers versteckt haben.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point". Foto: privat

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