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Paul Kirchhof.

© dapd

Monstrum Steuersystem: Die Steuerreform und die Liste des Muts

Es wäre eine Herkulesaufgabe, Kirchhofs Modell zur Reform des Steuersystems umzusetzen. Risiken müssten eingegangen werden. Die Alternative ist das mutlose Verharren auf dem Status quo. Das aber, so zeigt die Geschichte, hätte den Deutschen vieles vorenthalten.

Von Lutz Haverkamp

Die Herausforderungen hätten größer nicht sein können. Die Probleme überwältigend, die Chance zu scheitern ebenso. Dennoch hat sich die Politik entschieden, das Risiko zu wagen, die Probleme der Gegenwart anzuerkennen, Lösungen zu erarbeiten, um die Zukunft zu gestalten. Die Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1883 war so ein Fall. Heute haben die Deutschen eines der besten Gesundheitssysteme weltweit. Der Wiederaufbau nach dem moralischen, militärischen und wirtschaftlichen Nullpunkt 1945 ist ein anderes Beispiel. Heute ist Deutschland eine weltweit geachtete politische Mittelmacht und eine wirtschaftliche Großmacht. Die Wiedervereinigung, die Mitarbeit am Aufbau und Erhalt der Europäischen Union, der Euro inklusive Rettung und jüngst die Energiewende – Deutschland ist ein großartiges, ein starkes Land, das Probleme erkennt, Lösungen vorantreibt, die Zukunft mutig angeht.

Nicht immer. Bestes Beispiel: die seit Jahrzehnten – zumindest gefühlt – diskutierte umfassende Steuerreform. Die Ausgangslage ist hinlänglich durchleuchtet, beschrieben, problematisiert. Zu viele Gesetze, Verordnungen, Widersprüche, Unerklärliches. Das deutsche Steuersystem ist zu einem Monstrum herangewachsen, das Gerechtigkeit, Transparenz. Glaubwürdigkeit und damit in letzter Konsequenz die Demokratie beschädigt. Mehrere hundert Steuergesetze auf Bundes- und Landesebene, zehntausende Paragrafen, knapp 100.000 Verwaltungsvorschriften, die mal Einkommensteuer- Durchführungsverordnung oder auch Verordnung zur Änderung der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung heißen. Alles ist geregelt, aber nichts wird mehr verstanden, ein übergeordnetes Ziel ist längst aus den Augen verloren. Das deutsche Steuersystem spiegelt die Interessen- und Klientelpolitik der bundesrepublikanischen Geschichte wider. Mal waren es Heimtierbesitzer und Schnittblumenliebhaber, dann Hoteliers oder Bauherren, die mit Steuerprivilegien bedacht wurden. Das Konstrukt ist kaputtreformiert, nicht mehr zeitgemäß – es ist am Ende.

Die derzeitige Diskussion in der schwarz-gelben Bundesregierung um die Abflachung des Mittelstandsbauchs wird vermutlich zur nächsten Änderungsverordnung zur Umsetzung einer Änderungsverordnung führen. Der Koalitionsbeschluss, wenigstens die unsinnigsten Ausnahmen bei der ermäßigten Mehrwertsteuer abzuschaffen, harrt der Umsetzung. Die SPD hat sich ebenfalls mit ihrem Steuerkonzept bis zum Herbst vertagt. Politischer Mut, das Angehen einer umfassenden Reform? Fehlanzeige!

Dagegen nötigt die Beharrlichkeit des Professors aus Heidelberg, wie Altkanzler Schröder den Ex-Verfassungsrichter und Schattenfinanzminister Merkels aus dem Wahlkampf 2005, Paul Kirchhof, verächtlich machte, dann aber doch Respekt ab. Seinem Scheitern auf der großen Bühne der Politik folgt jetzt ein noch radikalerer Vorschlag zur Reform des Steuersystems in Deutschland. Einfach, sozial, gerecht, transparent.

Sicher, es wäre eine Herkulesaufgabe, Kirchhofs Modell umzusetzen. Risiken müssten eingegangen, noch unerkannte Probleme gelöst, Widerstände überwunden werden. Die Alternative ist das mutlose Verharren auf dem Status quo. Das aber, so zeigt die Geschichte, hätte den Deutschen vieles vorenthalten: eine Sozialversicherung, den Wiederaufbau, Europa, die Energiewende. Das alles ist geschafft. Diese Liste des Muts darf nicht zu Ende sein.

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