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My BERLIN: Bleib ruhig, Hartmut!

Roger Boyes, The Times

Hartmut der Starke, Erzherzog über den Güterverkehr, Baron von und zu Bord-Bistro, König der Gleise, Prinz zu McClean feierte am 31. Juli seinen 65. Geburtstag. Neulich verlängerte er seinen Vertrag und verkündete, er wolle die Mission seines Lebens vollenden: den Verkauf der Bahn. Man mag einwenden, es sei ein seltsamer Lebenszweck, ein Verkehrssystem zu zerschlagen, um das ganz Europa Deutschland beneidet. Es ist, als würde jemand sagen, sein dringendes Ziel sei es, Fachwerkhäuser abzureißen und durch mehrstöckige Parkhäuser zu ersetzen. Ein legitimes Ziel, vielleicht, doch nicht unbedingt eines, mit dem man angeben sollte.

Andererseits ist der Streik nun ausgesetzt, mein Kurzurlaub gerettet – warum verliere ich trotzdem das Vertrauen in das Genie des Herrn Mehdorn? Es ist ja grundsätzlich nicht verkehrt, mit 65 für etwas zu kämpfen, an das man glaubt.

Doch es gibt einen Moment, an dem die Weisheit nicht nur die Mächtigen verlässt. Bei Blair war das vor zwei Jahren so – und der ist noch jung. Bei Chirac kam es mit Mitte 60. Beide klammerten sich an die Macht – und hatten am Ende mehr Schaden angerichtet als Gutes, ihre Eitelkeit blockierte ihr Urteilsvermögen.

Nein, das ist kein Artikel über Hartmut Mehdorn – ich weiß, er mag es nicht, wenn ich über ihn schreibe, ich hoffe, er bleibt jetzt ganz ruhig – und deswegen will ich auch nicht spekulieren, wann nun der Zeitpunkt war, an dem sein unbestrittenes Managertalent zu erodieren begann. War es, als er das vollkommen sinnvolle Preissystem pürierte? Als er begann, die deutsche Sprache zu zerfleischen („Surf and Ride“)? Als er Salamischeiben vom Hauptbahnhof abschnitt? Wer weiß. Alles, was ich weiß, ist, dass so etwas jedem passieren kann. Wir machen alles richtig, sind von einer Sache überzeugt, gehen Risiken ein – doch irgendwann halten wir uns für unfehlbar, fangen an, Fehler zu machen. Ich auch.

Das sind so die Gedanken, die an einem nagen, wenn man, wie ich, gerade 55 geworden ist. Ich war mit einigen Freunden im Engelbecken (haben Engel Becken? Ich muss das googeln) in der Witzlebenstraße. Meine Begleiter verspotteten mich für mein fortgeschrittenes Alter, auch wenn einer auf die 50 zugeht. „50 ist wie 35“, sagte er vertraulich, bevor wir den Notarzt riefen, um eine Gräte aus seinem Hals zu entfernen, „doch 55 ist der Abgrund. Es ist wie 35 plus fünf.“ Ich teile seine Meinung.

Es ist das Alter, in dem wir akzeptieren müssen, wer wir sind, unsere krümeligen Knochen und Wehwehchen. Die Zahl der Jahre, die wir leben, ist nicht mehr so abstrakt – wie jung im Kopf wir uns auch fühlen. Es sind „nur“ fünf Jahre – doch mit 50 wartet man noch auf den Anruf, Chefredakteur der „Times“ zu werden. Mit 55 ist man einer dieser Typen mit obskurem Wissen, ein grauhaariger Veteran, der Ihnen – geringfügig schneller als das Internet – erzählen kann, wer Leonid Breschnew war und wie seine Tochter den Kreml in Aufruhr versetzte, weil sie mit Künstlern aus dem Moskauer Staatszirkus schlief. Interessiert das irgendjemanden?

Die Werbebranche interessiert sich nur für die 50-Jährigen. Die kaufen Cabrios und Plasmabildschirme. Wir 55-Jährigen dagegen geben Sachen auf, das Rauchen, den Alkohol – und konzentrieren uns ganz auf die Prostata. Wenn Sie in einer Gruppe mit 50-Jährigen sitzen und die Kellnerin duzt Sie, fühlen Sie sich geschmeichelt. Mit 55 ärgern Sie sich.

Ich war wohl der Einzige, der sich keine Sorgen darüber gemacht hat, ob es nun einen Bahn-Streik gibt oder nicht, auch wenn ich übers Wochenende weg will. Weil mir der Gedanke kam: „Dann bleibe ich eben zu Hause“. Zu Hause ist es auch schön. So ist das wohl, wenn man 55 ist.

Natürlich ist 55 nicht die einzige Demarkationslinie. Sechzig scheint mir ein leichter Übergang, 65 ein schwieriger. Das männliche Ruhestandsalter auf 65 zu legen, war eine faire Bestandsaufnahme der geistigen und körperlichen Verfassung von Arbeitern in westlichen Industriegesellschaften. Auch wenn wir heute Mitglieder in Fitnessstudios sind und Pilates-Kurse nehmen – etwas wird schlimmer in diesem Alter, es entspricht in etwa der Materialermüdung bei Metallen. Das Rentenalter auf 67 hochzusetzen, mag der heutigen Politikergeneration trivial erscheinen, doch diese zwei Jahre machen eine Menge aus. Es ist eine der Phasen, wo der Verstand beginnt, uns zu verlassen.

Natürlich geht es hier nicht um Hartmut den Weisen, ich habe das erwähnt. Doch denken Sie mal darüber nach, wie viel glücklicher deutsche Reisende wären, wäre Herr Mehdorn mit 57 bei der Heidelberger Druckmaschinen AG geblieben. Vermutlich würden Schlafwagen immer noch Schlafwagen heißen, nicht InterCityNightExpress, und Fahrräder würden nicht bei „Bike and Ride“ abgestellt. Denken Sie mal darüber nach, was mit der Bahn noch so alles passiert, bis Herr Mehdorn 67 ist.

Ich hoffe, er vergisst nicht seine Ginseng-Tabletten.

Übersetzt von Sebastian Bickerich.

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