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My BERLIN: Der unbekannte Brandenburger

Zahnärzte sind das Barometer wirtschaftlicher Krisen. Dank der korrosiven Kraft des Zuckers geht es ihnen nie schlecht.

Zahnärzte sind das Barometer wirtschaftlicher Krisen. Dank der korrosiven Kraft des Zuckers geht es ihnen nie schlecht. Zugleich sind sie immer auf der Suche nach sicheren Investitionen. Deshalb kam ich ins Nachdenken, als ich einen befreundeten Zahnarzt in Charlottenburg beim Beladen seines Auto beobachtete. Seine Frau, ehemals seine Sprechstundenhilfe, hakte eine Liste ab, wie sie früher die Löcher in den Schneide- und Backenzähnen durchgegangen war: Kasten Wasser? Ja. Kasten Bier. Ja. Kühltasche? Ja. Gasflasche? Ja. Fahrradhalterung? Ja. Picknickdecken, zwei tragbare Thermoskannen, tragbarer Fernseher (für das Deutschland-Spiel gegen Australien).

„Ihr braucht eine ganze Kamel- Karavane – Gott sei Dank habt ihr nicht auch noch Kinder“, sagte ich, mit meinem üblichen diplomatischen Geschick. „Dafür haben wir ein Haus auf dem Land“, sagte die Zahnarztfrau und warf einen professionellen Blick auf meinen Kiefer, „in Brandenburg“.

Tja, wo denn sonst? Das ist, mir wurde es plötzlich klar, der neue urbane Trend: das Wochenendhaus in Brandenburg, die preußische Finca. Die Zinsen sind auf einem historischen Tief (das ist mehr als gerecht, schließlich kriegen die Banken das Geld ja für so gut wie umsonst), Hauspreise sind im Keller, vor allem in der Mark. Was wäre in diesen unsicheren Zeiten eine bessere Investition als Haus und Grund? Der gestresste Berliner entdeckt das Umland; den Charme des Funklochs, der totalen Isolation.

Freitagnachmittags heißt es: auf die Plätze, fertig, los ins Fontane- Land. Das Problem besteht jedoch darin, das der Berliner Wurzeln schlägt, jedenfalls im Osten, aber fest entschlossen ist, jedem Kontakt mit den Ossis aus dem Weg zu gehen. Die neuen Wochenendler lassen ihre Kinder am See spielen und eine neue ländliche Unschuld wiedergewinnen – aber verbieten ihnen, mit den einheimischen Kindern zu spielen. Die Erwachsenen wiederum sehen ihre Wochenenden außerhalb von Berlin als eine Art Ehetherapie. Fern der Arbeit, fern der überehrgeizigen Freunde samt Blackberries müssen die Paare sich miteinander unterhalten. Und wenn Sybilla ein bisschen zu viel über die Probleme reden will, greift Peter nach der Angel und verlässt das Haus. Peter hasst natürlich die zum Fischen notwendige Ruhe, aber es ist immer noch besser, als in die Dorfkneipe zu gehen und die Einheimischen kennenzulernen. „Splendid Isolation“ nennen wir das auf Englisch.

Vermutlich haben sie die Geschichte von Gabriela S. gelesen – einer Buchhalterin, die 1988 die DDR verlassen und sich in Stuttgart niedergelassen hatte –, die bei einer Jobbewerbung abgelehnt wurde. Später erfuhr sie, warum: Auf ihrer Bewerbung fand sie einen handgeschriebenen Vermerk „Ossi“ und daneben ein Minussymbol. Sie verklagte die Firma wegen des Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Ihre Klage wurde vom Arbeitsgericht abgelehnt, aber sie ging in Revision.

Brandenburg reizt die Berliner wegen der eindrucksvollen Landschaft und der soliden Bausubstanz, aber nicht wegen seiner Einwohner. Vielleicht ist das auch nicht so wichtig. Die Engländer kaufen seit Jahren Häuschen in Wales, obwohl sie die Waliser seit Jahrhunderten verachten. Die Welt ist davon nicht untergegangen. Das Aufkaufen von Brandenburg führt vielleicht am Ende zu einem gewissen Interesse für das Leben und die Einstellungen der Einheimischen. Hoffentlich, denn ich war schon immer überrascht vom westlichen Desinteresse am Osten. Warum fährt der Rheinländer lieber nach Disneyland als nach Neuruppin?

Deshalb bin ich für Joachim Gauck als Präsident. Er wäre in der Lage, diese verklemmte, 20 Jahre alte Unterhaltung zwischen West und Ost intelligent weiterzuentwickeln. Wann, wenn nicht jetzt? Das Sparpaket trifft ostdeutsche Haushalte härter als westdeutsche. Jemand mit politischem Gewicht muss den Ossis deutlich machen, dass das föderale System sich nicht gegen sie richtet; und wer, abgesehen von der Kanzlerin, denkt im Kabinett noch daran, die Stimme für den Osten zu erheben. Wenn Gauck Präsident wird, das garantiere ich, hat die Linke nach vier Jahren nur noch die Hälfte der Stimmen.

Ich weiß natürlich sehr gut – vor allem, weil viele Leser mich daran erinnert haben –, dass mein Ruf als Prophet ein wenig gelitten hat, seit ich in meiner letzten Kolumne erklärt habe, warum Lena allein rechnerisch niemals gewinnen könnte. Die Zahlen sprachen gegen Lena – und sie sprechen gegen Gauck. Aber glücklicherweise lag ich bei Lena falsch und ich würde gerne immer wieder falsch liegen. Ich bin überzeugt, dass eine neue krisensichere Karriere als falscher Prophet vor mir liegt.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller. Roger Boyes’ neues Buch „Ossi Forever“ (Ullstein) ist ab heute im Buchhandel.

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